In Zeiten der Ansteckung
Cover „In Zeiten der Ansteckung. Foto: MZ
Buchtipp von KulturVision
Geschrieben hat er das Buch Ende Februar/Anfang März, erscheinen ist es im April dieses Jahres: „In Zeiten der Ansteckung“. Paolo Giordano ist es gelungen, in aller Kürze und Prägnanz darzustellen, was das Virus mit uns macht, nicht nur in Italien.
Das ist vermutlich Rekord. So schnell erschien wohl noch nie ein Buch auf dem Markt. Es kam zur rechten Zeit in deutscher Übersetzung von Barbara Kleiner bei Rowohlt heraus. Italien war im Februar Deutschland bei den Infektionszahlen voraus, wir schauten im März fassungslos die Bilder von Bergamo an.
Der italienische Schriftsteller und Naturwissenschaftler Paolo Giordano setzt sich „In Zeiten der Ansteckung“ mit der Coronakrise auseinander. Dabei kommt ihm sein naturwissenschaftlich analytischer Verstand zu Hilfe. Er ist promovierter Physiker und Verfasser des international erfolgreichen Romans „Die Einsamkeit der Primzahlen“.
Angst und Ungwissheit
In seinem höchst aktuellen und brisanten Essay reflektiert er auf 77 Seiten, wie sich unser Leben verändert, wie wir mit der Angst und der Ungewissheit unserer Zukunft umgehen. Dabei schreibt er sowohl wissenschaftlich exakt als auch leicht verständlich.
Er beginnt mit dem Schreiben an einem der seltenen 29. Februar, er beschließt die seltsame Leere des Lebens, da alle Termine wegfallen, mit Schreiben zu füllen. Dabei nutzt er insbesondere seine mathematische Kompetenz und sagt: „Die gegenwärtige Epidemie ist eine Infektion unseres Beziehungsnetzes.“
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Wie wahr. Am 13. März hatten wir das letzte richtige Meeting, am 15. März die letzte richtige Familienfeier, allerdings schon ohne Umarmungen. Als mich mein jüngerer Sohn vor zwei Tagen plötzlich und ohne Vorwarnung umarmte, war ich erschrocken, er sagte: „Ich bin negativ getestet.“ Soll das jetzt so weitergehen? Was ist aus unseren Beziehungen geworden?
Paolo Giordano geht an das Thema wissenschaftlich heran und teilt die Menschheit in drei Gruppen ein, die noch Gesunden, die ansteckenden Kranken und die aus dem Geschehen durch Tod oder Genesung „Entfernten“, wobei die erste Gruppe die mit Abstand größte „im Auge behalten werden muss“.
Der Lock-Down
Dabei spielt und das wissen wir aus den täglichen Berichten der Virologen, die Reproduktionszahl, also die Zahl, wie viele Menschen ein Infizierter ansteckt, eine maßgebliche Rolle, sie sollte unter eins sein. Erreicht wurde dies durch den Lock-down, durch Verzicht auf all das, was wir sonst immer tun.
Inzwischen gibt es aufgrund fallender Infektionszahlen Lockerungen, aber vorausschauend schreibt Paolo Giordano: Bei Nachlassen der Maßnahmen zur Eindämmung könne der Reproduktionswert sehr schnell wieder hochschnellen. Und dann gilt, was der Natur immanent ist, ein nicht lineares, sondern ein exponentielles Wachstum.
Geduld und Vorsicht
Wozu rät uns der Autor? Zu Geduld und Vorsicht, solange es keinen Impfstoff gibt. Das Virus ermuntere uns dazu, uns als Teil eines Kollektivs zu begreifen, schreibt er. „In Zeiten der Ansteckung ist fehlende Solidarität vor allem ein Mangel an Vorstellungskraft.“
Er schreibt: „Ich habe keine Angst davor zu erkranken. Wovor dann? Vor all dem, was die Ansteckung verändern kann. Davor zu entdecken, dass das Gerüst der Zivilisation, so wie ich sie kenne, ein Kartenhaus ist.“ Der Autor hat aber ebenso Angst davor, dass die Krise keine Veränderung hinterlässt.
Paolo Giordano. Foto: Rowohlt Verlag
Unsere Effizienz, in den Zeiten vor Corona gepriesen, sei jetzt unsere Verdammung, sagt Paolo Giordano. Eines der Beispiele, die er nennt, ist das Artensterben. Dies zwinge Krankheitserreger, die in Tierarten schlummern, sich andere Bleiben zu suchen. Vielleicht ist das Coronavirus so entstanden.
Und, so fügt er hinzu, das kann immer wieder passieren, denn „die Infektion liegt in der Ökologie“. Deshalb sei die Zeit der Ansteckung auch die Zeit des Nachdenkens.
Meinung statt Wahrheit
Das Problem aber sei, dass die Menschen den Experten vertrauen müssen und diese streiten. Statt Wahrheit herrscht Meinung. Und wo Uneinigkeit herrsche, gedeihe Unkraut, das sah der Autor schon am 3. März voraus und schreibt: „Falsche Nachrichten pflanzen sich fort wie Epidemien.“
Die Folge der Ungewissheit ist Misstrauen, das sehen wir heute in aller Deutlichkeit. Wir folgen nicht dem Rat von Paolo Giordano, der sagt, wir sollen der Epidemie einen Sinn geben, „diese Zeit besser verwenden, nachzudenken, was zu denken die Normalität uns hindert: wie wir zu diesem Punkt gekommen sind, wie wir neu starten wollen.“
Und er schließt sein Buch mit „Nicht zulassen, dass all dieses Leiden umsonst geschieht.“