„Ich wurde in Thüringen, in der DDR geboren, in einem System, in dem man nicht frei den Beruf wählen durfte“, erzählt Ines Wagner. Schon immer liebte sie Bücher, liebte die Sprache und sie war überzeugt davon, dass sich ihr Leben mit Büchern abspielen würde. Da lag der Beruf der Bibliothekarin oder der Buchhändlerin nahe, größere Wünsche wie ein Studium der Literaturwissenschaften oder Germanistik schienen vollkommen utopisch.
Näher lagen die regionalen Einflüsse. In Thüringen stand das Glas an erster Stelle, beide Eltern waren in der Glasbranche tätig und so machte auch sie eine Berufsausbildung als Glastechnikerin mit Abitur. „Zum Gymnasium wurde ich nicht zugelassen, weil meine Familie christlich orientiert war, statt parteinah.“
Dann plötzlich nach der Wende standen alle Wege offen, zu viele. „Das hat uns erschlagen, wir kannten die vielen Möglichkeiten nicht.“ Ines Wagner arbeitete zunächst ein Jahr in der Glasindustrie, bis dieser Betrieb wie viele andere auch geschlossen wurde. Zu ihrer eigenen Orientierungsfindung machte sie anschließend ein freiwilliges soziales Jahr in einer Lebensgemeinschaft für Behinderte und Nichtbehinderte in Hessen. Hier keimte bei ihr der Wunsch, sich ihrer kreativen Seite, dem Kunsthandwerk zuzuwenden. Sie machte eine Ausbildung zur Handweberin und studierte danach an der Kunsthochschule in Kassel Industrie- und Textildesign und setzte das Studium an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle fort.
Daneben verfolgte sie schon immer der Wunsch, die große weite Welt zu sehen. Mit mehreren längeren beruflichen Aufenthalten in der Mongolei, China und in Japan lernte sie Sprache und Kultur kennen, ließ sich vom Fremden inspirieren. In Japan und auf der Schwäbischen Alp, so erzählt die Designerin, habe sie eine eigene Kollektion entworfen, programmiert und gestrickt, für die ihr später der Bayerische Staatpreis verliehen wurde. Sie habe aber auch Zeit gehabt, sich Geishas, Sumoringer oder eine Teezeremonie anzuschauen und mitzuerleben. Und sie widmete sich dem Entstehungs- und Gestaltungsprozess von Materialien. Damit schuf sie für sich selbst ein Äquivalent zum Rummel im Modekarussell, wo ein jedes Label dem anderen hinterher hechelt, um auf dem umkämpften Markt zu überleben.
Mit ihrer fundierten Ausbildung im Stricken und ihrem handwerklich-technischem Interesse war sie eine gesuchte Spezialistin. Aus einem Haute Couture Modelabel in der Schweiz warb sie ein Headhunter an den Tegernsee ab. Der Abschied aus der Schweiz fiel schwer, denn sie verließ einen internationalen Freundeskreis und ein angesehenes Unternehmen. „Aber der weiß-blaue Himmel am Tegernsee und die Firma mit einer außergewöhnlich hochwertigen Strickkollektion waren schon eine Herausforderung.“ Sie nahm an, zog nach Rottach-Egern und geriet immer tiefer in den Strudel der Modebranche.
Zwar konnte sie auch jetzt ihrem Drang in fremde Länder zu reisen folgen, sie verbrachte 90 Tage im Jahr in China, aber das bedeutete sieben Tage in der Woche mehr als Vollzeitarbeit. Keine Zeit für die Kultur des Landes. Und keine Möglichkeit, eigene Ideen umzusetzen.
„In der Modebranche bist du die Umsetzerin von den sprunghaften Ideen anderer Leute“, erzählt sie, die Oberflächlichkeit, der Personenkult und Narzissmus sowie das tägliche Drama um den falschen Knopf habe sie sehr gestört. Dabei war sie in einer Branche tätig, die hochwertige Artikel mit hohem Qualitätsanspruch fertigte, „keine Wegwerfartikel, sondern eher Kunstwerke“, wie sie sagt.
Aber Willkür und Glamour wurden für sie, die bis zu ihrem 20. Lebensjahr keine Hochglanzmodemagazine gekannt hatte, immer unerträglicher. „Ich wollte nicht mehr ein Rädchen in diesem Getriebe sein“, entschied sie und suchte nach einer tiefgreifenden, sinnstiftenden Alternative.
Wichtig dabei war für sie nicht eine neue Firma, sondern einen neuen Beruf zu finden, nicht einen neuen Ort zu suchen, sondern am Tegernsee zu bleiben, dem Ort, der ihr Kraft gab, der ihr durch das Erdige der Berge einen Gegenpol zu ihrer oberflächlichen Branche geboten hatte.
Im Januar 2014 war es soweit, ihr wurde klar, dass ihr Wunsch, den sie nicht hatte verwirklichen können, jetzt Triebkraft wurde, ihr nebulöser Wunsch zu schreiben. Sie suchte und recherchierte und landete bei der Schreibwerkstatt von KulturVision e.V., die sich damals ganz dem Thema Spurwechsel widmete.„Das war doppelt richtig“, ist sie heute überzeugt, „durch das Schreiben herauszufinden was richtig für mich ist“.
Ihre ersten Geschichten waren echte Spurwechselgeschichten. Sie befreite sich vom Alten und versuchte Neues zu entdecken. Dabei hatte sie Lust, etwas Kreatives mit den eigenen Händen zu machen und überlegte, ein eigenes Stricklabel zu gründen. „Aber das war blauäugig“, gesteht sie sich im Nachhinein ein. Dennoch, Ines Wagner wagte den Sprung ins kalte Wasser, sie kündigte, ohne zu wissen, was folgt. Ihre Angst vor der ungewissen Zukunft bewältigte sie über das Schreiben in der Schreibwerkstatt, wo sie Menschen mit haargenau denselben Problemen vorfand und wo man sich gegenseitig Mut zusprach.
Sie besuchte alle Schreibseminare, die KulturVision anbot. Beim Krimischreiben mit Erfolgsautor Martin Calsow befreite sie sich von den Erfahrungen in der Modebranche durch Mord, ebenso wie die meisten anderen Teilnehmerinnen, die ihre Vorgesetzten ins Jenseits beförderten und sich so von ihrer Vergangenheit lösten.
Ein Konzert mit der japanischen Pianistin Masako Ohta im Sommer 2014 in München war der Beginn einer neuen Karriere. Ines Wagner schrieb den ersten Artikel von vielen Artikeln für das Onlinemagazin www.kulturvision-aktuell.de.
Bis heute folgten mehr als 500 Artikel, zunächst ehrenamtlich. „Es hat mir ermöglicht, das journalistische Handwerk zu lernen und Routine zu bekommen“, sagt sie heute. Um eine gewisse finanzielle Sicherheit zu haben und um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen, arbeitete sie parallel als Freiberuflerin in der Modebranche weiter. Damit konnte sie sich schließlich von ihrem alten Beruf sukzessive lösen und das Schreiben zu ihrem neuen Beruf machen.
Ines Wagner während ihres Impulsvortrages zum Thema Glas. Foto: Hannes Reisinger
Um diesen mit profundem Wissen ausüben zu können, besuchte die ehemalige Modedesignerin die Journalistenakademie in München und ließ damit die Modebranche komplett los. Die Ausbildung machte Freude. Ihr Wissen über crossmediales Arbeiten brachte sie bei KulturVision ein. Von 2016 bis 2020 unterstützte sie im Vorstand des Vereins, zuletzt als Vorstandsvorsitzende.
Seit Januar 2019 ist sie in einer Festanstellung bei der Tegernseer Tal Tourismus GmbH. Hier könne sie ihre Fähigkeiten im Journalismus, Marketing und der Kulturarbeit für die Region einbringen und die Schönheit ihrer Wahlheimat preisen.
„Ich bin angekommen“, ist sie zufrieden, „ich habe meinen Platz gefunden.“ Der Schlüssel sei die Kommunikation. Immer habe sie Menschen getroffen, die offen waren und sie inspirierten. Nach wie vor schreibt die Journalistin Artikel sowohl für KulturVision als auch für einen renommierten Reiseverlag, denn Reisen ist für sie immer noch der Quell der Inspiration.
Und die Zukunft? „Ich schaue nicht in die Zukunft“, sagt die Spurwechslerin, aber sie habe den Wunsch, auch literarisch zu schreiben. Durch die vielen Ortswechsel, unterschiedlichen Erfahrungen, Begegnungen, Kulturen und Arbeitsfelder trage sie Geschichten in sich, die rumoren, die erzählt werden wollen.
So war der Spurwechsel von der Modedesignerin zur Journalistin vielleicht nicht der letzte und es folgt noch einer zur Romanautorin.