„Das muss doch mal jemand aufschreiben“
Johann Erben und seine Frau Christine anlässlich ihrer Goldenen Hochzeit 2007. Foto: Privatbesitz Johann Erben.
Auf den Spuren eines nicht alltäglichen Lebens
Anlässlich eines Diavortrags, den Johann Erben vor Senioren in Otterfing hält, fällt den Zuhörern auf, dass der Mann viel Interessantes aus der Vergangenheit zu erzählen hat. „Das muss doch mal jemand aufschreiben“, sagt eine Dame in der Runde. Recht hat sie.
Christine und Johann Erben empfangen bei herrlichem Sonnenschein auf der Terrasse ihres Hauses in Otterfing, und ich schaue auf einen atemberaubenden Garten mit blühendem Phlox und Sonnenhut, mit Fuchsien, Tag- und Schwertlilien, Schafgarbe und Blauregen. Den Garten mache er aber nicht ganz allein, lacht der charmante 90jährige, seine gleichaltrige Frau helfe ihm durchaus ein wenig beim Unkraut zupfen. Und dann erzählen die beiden und die Zeit vergeht wie im Fluge.
Eine Kindheit im Sudetenland
Der kleine Johann wird in bescheidene Verhältnisse hineingeboren, und doch erinnert er sich an eine wunderschöne Kindheit in Wolta, einem Dorf bei Trautenau in den Ausläufern des Riesengebirges. „Wir lebten am Ende des Tals, gleich am Waldrand, es gab einen Bach und Getreidefelder, wir Kinder hatten freie Hand, wir sammelten Beeren und ich war der Pilzkönig, weil ich immer die meisten Pilze fand.“
Der zehnjährige Johann bei seiner Kommunion in Wolta. Foto: Privatbesitz Johann Erben.
Dass das Dorf Wolta im Sudetenland liegt und diese Tatsache erheblichen Einfluss auf sein späteres Leben haben wird, ahnt Johann damals noch nicht. Dunkel kann er sich an die allgemeine Aufregung erinnern, als Adolf Hitler seinem Heimatort einen Besuch abstattete. Das war im Oktober 1938, Hitler hatte dem englischen, französischen und italienischen Regierungschef da gerade das Sudetenland abverhandelt und war nun auf seiner Siegesreise durch die Gebiete, die eigentlich zur Tschechoslowakei gehörten. Da war Johann sechs Jahre alt, er kam in die Schule und damit in den zweifelhaften Genuss der nationalsozialistischen Erziehung: Fahnenappelle mit dem Hissen der Hakenkreuzfahne sowie das Absingen von NS-Liedern gehörten nun zur Normalität. Freilich, gibt er unumwunden zu, war er damals ziemlich stolz, die Uniform der Pimpfe tragen zu dürfen – den Lederknoten des Halstuchs besitzt er heute noch. Kopfschüttelnd erzählt er, wie ihnen in der Schule ein solches Zerrbild der Juden beigebracht worden war, dass die Jungs tatsächlich Unheilvolles planten, sollten sie je einem Juden begegnen.
Vertreibung und Neubeginn
1944 kommen die ersten Flüchtlingstrecks aus Schlesien. Die Flüchtlinge werden in der Schule einquartiert, und nach nur sechs Jahren ist Johanns Schulbesuch damit beendet. Die (deutsche) Schule wird auch nach Kriegsende nicht wieder geöffnet. Stattdessen werden die Deutschen gekennzeichnet – sie müssen eine weiße Armbinde mit einem „N“ darauf (für Nêmec = Deutscher) tragen -, sie werden enteignet und vertrieben.
Im März 1946 wird die Familie Erben gezwungen, an einem Sammelpunkt im Dorf zu erscheinen – erlaubtes Reisegepäck: 20 kg pro Person. Mit dem Handwagen machen sich der gerade aus dem Krieg heimgekehrte Vater mit der Mutter und dem 14jährigen Johann sowie seinen drei Schwestern Mariechen, Gertrud und Edith auf den Weg. Der noch 1945 eingezogene 18jährige Bruder Alfred, der in seinem letzten Brief schrieb: „Die schießen uns hier ab wie die Hasen“, ist nicht dabei. Er ist (und bleibt) verschollen. Am Sammelpunkt werden Menschen und Gepäck auf einen Lkw verladen und es beginnt eine mehrtägige Odyssee auf Lkw und in Viehwägen, die schließlich in dem kleinen Dorf Iba im Hessischen endet.
Die Flüchtlinge werden verteilt, Familie Erben wird bei einem Bauern untergebracht. Der Bauer ist nicht gerade erfreut. Als die Bauersfrau jedoch sieht, dass Mutter Erben weiße Bettwäsche auspackt und damit die Betten bezieht, hebt das die Stimmung. „Also doch keine Zigeuner, wird sie wohl gedacht haben“, schmunzelt Johann Erben. Als Johanns älteste Schwester später den Fritz heiratet, den Sohn des angesehenen Bauern, ist das eine Sensation im ganzen Dorf: Mariechen, das Flüchtlingskind, mit dem Fritz!
Vom Dorfschneider zur Königsklasse
Johann macht derweil eine Lehre beim Dorfschneider – es ist die einzige verfügbare Lehrstelle in Iba – und sieht auf dem Radlweg zum Schneidermeister oft ein hübsches blondes Mädchen am Gartenzaun stehen: Christine. Inzwischen schaut sich eine Bekannte der Familie, die in München lebt, nach einer Stelle für Johann um. Und wie der Zufall so spielt: Die Bekannte kennt die Tante von Max Dietl, der damals als der beste Schneider in ganz Deutschland gilt und vornehm in der Münchner Innenstadt residiert. Ob der nicht einen Schneider gebrauchen könne? Nachdem Johann probegenäht hatte, durfte er tatsächlich beim Dietl beginnen – zunächst als Zuarbeiter für die Großstückschneider. Christine, mit der er mittlerweile längst befreundet ist, zieht ihrem Hans hinterher und verliebt sich obendrein sofort in die Stadt München.
Johann Erben lehnt sich in seinem Gartenstuhl zurück. Manchmal denke er schon darüber nach, wie anders sein Leben doch verlaufen wäre, wenn die einzige vorhandene Lehrstelle damals, so kurz nach dem Krieg, eine andere gewesen wäre als die beim Dorfschneider. Aber dann schiebt er den Gedanken gleich wieder von sich. Denn er ist ja durchaus froh und zufrieden damit, was er aus seinem Leben gemacht hat.
Frack und Smoking für die Hautevolee
Nach nur einem Jahr Zuarbeit beim berühmten Dietl wurde Johann Großstückschneider und nähte Sakkos, Fräcke und Smokings. Schmunzelnd erzählt er von all den Kunden mit Rang, Klang und Namen: Von Schauspielern wie Peter van Eyck und Friedrich Domin über Industrielle wie Arndt von Bohlen und Halbach bis hin zu schillernden Figuren wie dem Konsul Weyer hat er bei Max Dietl viele Prominente kennengelernt. Nach acht Jahren drängt es ihn jedoch zu einer Veränderung, er geht zu Konen, wird dort „Modellmacher“ (heute würde man Modedesigner sagen) und entwirft Freizeitmode für Herren. Später wird er von daheim aus Damenjacken für ein exklusives italienisches Modelabel entwerfen. „Das waren so Jacken im Doris Day-Stil, total auf Taille geschnitten“, erzählt Johann Erben, „die würde heute niemand mehr tragen. Aber meine Frau war tatsächlich immer gekleidet wie eine Modepuppe.“
Von Armenien über Kambodscha bis nach China
Mandara-See in Libyen. Foto: Johann Erben
Längst haben Johann und Christine Erben das Reisen entdeckt. Und egal, wohin es geht – ob nach Sizilien, Andalusien, in die Türkei oder nach Syrien, Armenien, Kambodscha, Burma oder China – immer ist die Kamera mit dabei. Ob er denn mal einen Diavortrag halten könne?, fragte Johann Erben bei den „Fotofreunden-Parsberg“ nach. Man machte eine Ausnahme für den Auswärtigen aus Otterfing, der einen Gastvortrag halten durfte. Der Vortrag schlug ein, er verschaffte Johann Erben die Mitgliedschaft bei den „Fotofreunden-Parsberg“.
Schneeskulptur in Harbin, China. Foto: Johann Erben
Mit Kamera und grünem Daumen
Borretsch-Pflanze. Foto: Johann Erben.
Seitdem hat Erben etwa 300 Diavorträge gehalten – in Kliniken, Altersheimen, im Lyceum-Club München – und über seine Reisen berichtet. Aber er hat auch noch andere Themen in petto. Johann Erben ist nämlich auch ein passionierter Gärtner. Schon als Kind hatte er eine Liebe zur Natur und alle meinten, er müsse unbedingt Gärtner werden. Irgendwie ist er das im späteren Leben tatsächlich noch geworden, wenn auch nur hobbymäßig.
Rote Lilie, Nahaufnahme. Foto: Johann Erben
Das Wissen, das Johann Erben über Pflanzen angehäuft hat, ist enorm und kann sich mit einem Profi messen. So hielt er beispielsweise Vorträge über die schönsten und seltenen Blumen im Engadin, im Isartal, im Karwendel, im Moor und auf Trockenrasen. Oft wird er von Freunden, aber auch von völlig Unbekannten angesprochen, die um seine Hilfe bitten, wenn irgendetwas im Garten nicht wächst und gedeiht.
„Ich bin nur sechs Jahre zur Schule gegangen und weiß doch so allerhand“, kommentiert das der bescheidene 90jährige mit einem leisen Stolz in der Stimme. Wie wahr.
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