Als Kind hielt sich ihre Lust am Bergsteigen mit den Eltern in Grenzen. Als Erwachsene in Norddeutschland fehlten ihr die heimischen Berge und zogen sie zurück. Am Tegernsee fand die Allgäuerin eine zweite Heimat und begann mit ersten Trekking- und Mountainbiketouren.
Heute ist Julia Schultz die erste Deutsche, die den legendären Explorers Grand Slam absolvierte. Dahinter verbergen sich die sieben höchsten Gipfel aller Kontinente sowie die beiden Pole. Und noch ein bisschen mehr. Denn Julia bewältigte zwei zusätzliche Gipfel, da es zwei unterschiedliche Listen mit den seven summits gibt.
Der Weg dahin war kurvenreich und nicht geplant. In ihrer Jugend schon sei sie ein Ausreißer gewesen, erzählt die knapp 40-Jährige, und habe immer nach der ihr ureigenen Spur gesucht. Bulimie und Magersucht waren der falsche Weg, „das ist beschissen, das sollte niemand machen/das hat niemand nötig“, weiß sie heute. Eigentlich hätte sie es sich gut gehen lassen können, denn sie wuchs in einem behüteten, wohlhabenden Elternhaus auf. Das Familienunternehmen in Memmingen stellt Elektrogeräte her. „Ich hatte ein sicheres Kissen, auf das ich immer zurückfallen durfte, es hat mir an nichts gefehlt.“
Es war klar, dass der Bruder einmal die Firma übernimmt, aber welcher Weg war für Julia der richtige? Sie machte zunächst eine Ausbildung zur Hotelfachfrau, arbeitete auf einem Kreuzfahrtschiff und verlor jede Lust am Sport, denn der Job war anstrengend. Auch als sie an den Tegernsee kam und in den Egerner Höfen und der Villa am See arbeitete, fühlte sie, dass sie ihre Spur wechseln muss. „Alle sieben Jahre wollte sich etwas verändern“, sagt sie rückblickend.
Sie rasierte sich die Haare ab, kündigte und machte sich auf den Jakobsweg. Allein unterwegs stellte sie sich ihrer Lebensfrage: Mein Bruder ist toll und führt das Unternehmen weiter, aber was kann ich meinen Eltern zurückgeben?
Zunächst fand sie heraus, dass es ihr sehr gut gefiel und auch gut tat, frei von jeder Etikette und nur mit dem, was sie im kleinen Rucksack mit sich trug, auszukommen und durchs Leben zu gehen. Zurückgekehrt nach Bayern nach sieben Wochen beendete sie ihre Beziehung und fand einen neuen spannenden Job als Expansionsmanagerin in der Cafébranche. Coole zwei Jahre seien das gewesen als sie perfekte Standorte und Personen für Franchiseunternehmen suchte, aber dann habe sie gespürt, dass sie nichts getan habe, was man anfassen kann.
Julia Schultz im Gespräch im Waitzinger Keller. Foto: Petra Kurbjuhn
Es war wieder eine Zeit, die Spur zu wechseln. Julia Schultz entschied sich 2012, zum 100jährigen Bestehen des Familienunternehmens nach Hause zurückzukehren, das Jubiläum zu organisieren und die Chronik zu verfassen. „Da konnte ich meine Handschrift hinterlassen“, ist sie stolz.
Inzwischen aber hatte sie schon längst wieder mit dem Sport begonnen. Die Initialzündung kam von der Bergschule Oberallgäu, die eine Trekkingtour durch Nepal anbot. Gemeinsam mit Bergführer Udo Zehetleitner machte sich Julia 2006 drei Wochen auf den Weg. Und fand heraus, dass dieses Leben mit dem Rucksack auf dem Rücken und erst nach 18 Tagen wieder einmal Duschen ihr taugte. „Ich habe gemerkt, dass ein Leben der Tochter aus gutem Hause mit Luxus mir nicht entspricht.“
Das Wandern in der Stille indes, fremdes Essen und fremde Menschen, andere Kulturen, das war es, was ihre Neugier weckte. „Auf solchen Touren fliegen die Masken weg“, erzählt sie, „Da redet man über Themen, über die man zu Hause nicht redet.“
Und damit ließ Julia die Bergleidenschaft zu und bestieg den Kilimandscharo, den Elbrus, den Ararat. Nach dem Jakobsweg im Jahr 2009 und ihrer Rückkehr nach Memmingen in das Familienunternehmen fand sie die Doppelspur: Arbeit in der Firma und immer wieder für ein paar Wochen ausbrechen, um sich der Höhe, der Kälte, dem körperlichen Extrembelastungen auszusetzen.
Jetzt schloss sie sich der Agentur Kobler & Partner aus Bern an und erfüllte sich ihren Traum. „Vom Flugzeug aus hatte ich den Aconagua, den höchsten Berg in Südamerika gesehen, der hat mich nicht losgelassen.“ Mit Steigeisen und Pickel erlebte sie 2013 erstmals extreme Kälte. Ein paar Zehen waren angefroren. „Das war eine krasse Erfahrung, ich hatte echt Angst und mir kam das erste Mal zu Bewusstsein, wo Schluss ist.“ Erst nach einem halben Jahr kam das Gefühl in den erfrorenen Zehen zurück.
Bei einer Skitour in Marokko auf 4.173 Metern Höhe wusste sie, dass noch lange nicht Schluss ist, „ich brauche das, das ist Detox für die Sinne“. Und sie entschied sich für den Northcol (7.020 Meter) auf der tibetischen Seite des Mount Everest. „Das war wunderbar, ich traf lauter Größen der internationalen Expeditionsgruppen und saß im Base Camp mit Ausnahmebergsteigern im Zelt.“
Aber die Freude hatte ein jähes Ende, extremes Wetter und Erdbeben brachten die Gruppe in Gefahr, es gab Tote, die Expedition wurde abgebrochen. Auch als Julia einige Monate später im Ladakh mit Bergfreunden unterwegs war, spürte sie wegen ihrer erfrorenen Zehen ihre Grenzen und entschied sich gegen einen weiteren Aufstieg zum Kun (7.077 Meter). „Ich konnte mich mit den anderen mitfreuen, dass sie gegangen sind, und mich freuen, dass ich mich dagegen entschieden habe“, erzählt sie.
Geschafft! Julia Schultz am Südpol. Foto: Leinwandfoto Petra Kurbjuhn
Der Vater hatte dann die Idee mit der Antarktis. Auf dem Weg zum Mount Vinson (4.892 Meter) lernte sie die Russin Masha kennen, mit der sie dann noch zum Südpol, ein viertel Jahr später auch den Weg zum Nordpol absolvierte. Nach Hause zurückgekehrt, erlebte sie die Anerkennung der Familie. „Nicht der klassische Weg Abitur und Studium war es, sondern ich habe draußen bestanden“, berichtet sie, und das habe sie gestärkt. Aber auch gekitzelt, denn inzwischen hatte Julia sechs der neun Ziele des Explorers Grand Slam erreicht.
Julia Schultz auf dem Weg zum Nordpol. Foto: Leinwandfoto Petra Kurbjuhn
Es folgte Alaskas höchster Berg, der Denali, und die Carstensz-Pyramide in Papua-Neuguinea. Eine extrem schöne Reise sei das gewesen, mit der Machete habe man sich den Weg im Urwald freischlagen müssen. Und dann der scharfkantige Gipfel, den man nur über ein Drahtseil über eine Schlucht von 600 Meter Tiefe erreiche. Kopf ausschalten und probieren, so sei es geglückt.
Auf der Carstensz-Pyramide. Foto: Leinwandreproduktion Petra Kurbjuhn
Jetzt fehlte nur noch der Mount Everest. Vater und Freund bestärkten sie und so entschied sie sich 2017 noch einmal für die Nordseite des höchsten Berges unserer Erde. Wie ein Nachhausekommen sei es gewesen, denn vier der Kollegen von 2015 waren wieder mit dabei. Und jetzt konnte Julia sogar selbst mit Erfahrungen aufwarten und Tipps zur Ausrüstung oder Ernährung geben. Gut sei die Stimmung in der Gruppe gewesen, auch bei brenzligen Situationen.
Und immer dabei das Teufelchen auf der Schulter, das flüsterte, du musst da rauf. Trotz Lagerkoller, Höhe und Kälte, obwohl sie in den acht Wochen 12 Kilogramm abnahm, sie hat es geschafft. Allerdings habe sie dieses Mal vorher ihr Testament gemacht und zu Hause alles geregelt. Vor dem letzten Aufstieg schrieb sie noch Briefe, die mit persönlichen Sachen, auch der anderen, bis zur Rückkehr im Base Camp verwahrt werden. Und dann ging es mit dem Nötigsten los. „Oben Euphorie, aber wir haben nichts gesehen“, lächelt sie. Im Dunkeln stiegen sie erst fünfeinhalb Stunden auf und seien im Schneesturm 11 Stunden ganze 2400 Meter wieder abgestiegen.
„Ich dachte ich breche zusammen“, erinnert sich Julia, die heiße Nudelsuppe der Sherpas war wie pures, köstliches Lebenselixier. „Und dann saßen wir mit hochroten Backen beim Gipfelbier, haben angestoßen, gelacht und geweint vor Glück.“ Erstaunlicherweise habe sie am nächsten Tag keinen Muskelkater gehabt, sei 25 Kilometer bis zum Base Camp abgestiegen und am fünften Tag nach dem Gipfelerlebnis wieder zu Hause angekommen.
„Da machst du so viel durch und kriegst so viel Scheitern mit“, erzählt sie, einer der Bergkollegen habe seinen vierten Anlauf gemacht. Wenn man dann ohne Blessuren von so einer Traumexpedition zurückkomme, sei man nur noch dankbar.
„Die Berge waren mein Türöffner“, sagt sie heute. Nachdem sie den Explorers Grand Slam als erste Deutsche absolvierte, war sie zu Gast im Radio, im Fernsehen, moderierte mit Michael Pause den Abschlussabend des vorjährigen Bergfilmfestivals in Tegernsee und gab zahlreiche Interviews.
Jetzt sei sie wieder einmal mittendrin in einem Spurwechsel, erzählt sie. Nach den extremen Jahren 2015 bis 2017 werde sie jetzt sesshaft, sei angekommen in einem alten orangefarbenen Feuerwehrhaus, das sie mit ihrem Partner herrichtet. „Alles fügt sich gerade gut zusammen“, sagt Julia Schultz, „wir haben ein Zuhause mit zwei Hunden.“ Und dann lacht sie: „Der Alltag ist ein gefühlter Neuntausender.“
Aber sie habe nie das Gefühl: Was jetzt noch? Vielmehr wolle sie jetzt den Sommer erleben, barfuß laufen, den Flugschein machen und stricken lernen. Mangel habe sie nicht, nur eine neue Herausforderung: Sie schreibt ein Buch.
Monika Ziegler
Publiziert Dezember 2020