Enthemmte Zeiten im Korbinians Kolleg

Paar-und Sexualtherapeutin Heike Melzer im Korbinians Kolleg. Foto: privat

Vortrag in Rottach-Egern

Die Vortragsreihe „Korbinians Kolleg“ im Hotel Bachmair Weissach in Rottach-Egern ist bereits zur Institution geworden. Im heurigen Wintersemester widmet sie sich aus gegebenem Anlass dem Thema „Krise“. Nach der Entstehung von politischen Krisen im Oktober stand die fortschreitende Enthemmung unserer Gesellschaft im November im Mittelpunkt. Ein heißes Thema, vorgetragen von der Neurologin und Sexualtherapeutin Heike Melzer.

Heike Melzer bezeichnet sich selbst als Urfossil. Sie gendert nicht, stellt sich als Neurologe und Psychotherapeut vor, hält Vorträge und schreibt Bücher, die Fragen aufwerfen und kontroverse Diskussionen auslösen. Wenn sie nicht ihre Patienten betreut, was sie in ihrer Praxis in München tut und viermal im Jahr auf der Insel Sylt. Im Strandkorb, unter freiem Himmel.

Krise und Katastrophe

Den sehr gut besuchten Abend im Hotel Bachmair Weissach eröffnet Heike Melzer mit einem Zitat von Max Frisch: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“ Klar und prägnant erklärt sie den Unterschied zwischen einer Krise, in der wir Entscheidungsmöglichkeiten genauso wie die Chance zu wachsen haben, im Gegensatz zur Katastrophe und macht sich daran, eine Krise unserer Gesellschaft zu beschreiben: die neuen Süchte.

„Online Gaming Disorder“ – die neue Sucht

Neben den bekannteren Süchten wie die Abhängigkeiten von Alkohol, Zucker oder illegalen Drogen gibt es auch diejenigen, die erst seit kurzem in unserer Gesellschaft Einzug gehalten haben. Als erste anerkannte neue Verhaltenssucht gilt nach Heike Melzer die „Online Gaming Disorder“, die Sucht nach Online-Spielen. Jedoch warten bereits andere Abhängigkeiten darauf, als nächste im Katalog der Verhaltenssüchte aufgenommen zu werden, allen voran die Sucht nach Pornografie, nach Sex, sozialen Medien, Online-Shopping und Binge-Serienschauen.

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Neuronale Netzwerke als Schlüssel zu Glück und Leid. Foto: Pixabay

Auf der Suche nach Erklärungen für diese Phänomene, die Heike Melzer wie viele ihrer Kollegen verstärkt in ihrer Praxis beobachtet, greift die Therapeutin auf ihr Wissen als Neurologin zurück. Anschaulich beschreibt sie, wie unser Hirn sowohl enthemmte Strukturen aufweist, die uns zur Befriedigung momentaner Wünsche treiben, sowie Bereiche, die dafür sorgen, dass wir auch überlegte, willensgesteuerte Entscheidungen treffen können. Die Dysbalance im Gehirn von Menschen, die mit den erwähnten Verhaltenssüchten zu kämpfen haben, bringt Heike Melzer mit den sogenannten „Superreizen“ in Verbindung.

Superreize verändern unser Gehirn

Stellen sie sich für einen Moment die kleinen verschrumpelten Äpfel im Garten ihrer Oma vor und daneben die tiefroten, glänzenden, großen Äpfel im Supermarkt. Eine Frau mit durchschnittlichem Busen und eine mit auf unnatürliche Weite aufgedehnten Brüsten. Heike Melzer veranschaulicht, wie wir Menschen in verschiedensten Bereichen mit Superreizen überladen werden, abstumpfen und schließlich vom Konsumierten abhängig werden. Vom Zucker genauso wie von Porno. Sie bringt auch das Beispiel von verunsicherten Jugendlichen, die noch keine sexuellen Kontakte hatten, aber bereits alles, was denkbar ist, im Internet gesehen haben. Die neuronalen Verbindungen im Hirn werden durch Dinge, die wir häufig tun, immer stärker ausgebildet. Wie kleine Straßen, die bei wiederholtem Handeln zu Autobahnen werden.

Hilft nur noch Askese?

Die momentan verstärkt auftretenden Süchte, die in Therapiepraxen zu beobachten sind, macht Heike Melzer auch deshalb publik, weil sie ihrer Meinung nach gesellschaftliche Tendenzen darstellen, die im Moment im Verborgenen agieren und erst in Jahren deutlich sichtbar sein werden.

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Wie können wir Superreizen entkommen? Bild: Pixabay

Wenn unser Gehirn mehr und mehr durch Superreize, die ganz absichtlich auf unser Bewusstsein gerichtet werden, in Dysbalance gerät, wie können wir gegensteuern?

Heike Melzer rät dazu, sich in Dingen zu üben, die erstmal weniger attraktiv klingen als das, was sich im Moment gut anfühlt. Genug schlafen, sich Wissen aneignen, analoge Freundschaften pflegen, die uns dann Essen vor die Tür stellen, wenn wir krank sind, was von Instagram Followern nicht zu erwarten ist. Fasten, auch digital, unserer Intuition folgen und uns im „Belohnungsaufschub“ üben. Meditieren oder auf andere Weise trainieren, präsent zu sein, den Moment zu erleben, anstatt zuzuschauen. Oder sich gar der Askese hingeben, was nebenbei noch unsere Lebenszeit verlängern würde. Am Ende noch ein weiteres Zitat von Max Frisch: „Die meisten verwechseln Dabeisein mit Erleben“ und schon geht es wie immer beim Korbinians Kolleg nach dem Vortrag in die Diskussion.

Ein guter Vortrag darf irritieren

In dieser traditionellen Fragenrunde suchen diesmal besorgte Zuhörer Ratschläge für den Umgang mit Kindern und der digitalen Welt, während ein Teilnehmer die „schwarz-weiße Herangehensweise“ des Vortrages beklagt und sich eine differenziertere Betrachtung der angeschnittenen Themen wünschen würde. Fragen geistern durch die Köpfe der Menschen im Saal, das eigene Verhalten wird hinterfragt, während einige den Heimweg antreten und andere sich auf das Galadinner im Anschluss freuen. Über Askese denken wir vielleicht morgen nach. Und darüber, wie wir unserer eigenen Enthemmung und der Gesellschaft entgegensteuern könnten, auch. Morgen dann. Vielleicht.

Der nächste Vortrag im Korbinians Kolleg findet am 2.12. um 18.30 Uhr im Hotel Bachmair in Weissach statt. Prof. Dr. Armin Nassehi spricht über „Multiple Krisen“.

Zum Weiterlesen: Wie kann Veränderung gelingen?

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