Kultur und Nachhaltigkeit

Wie passen Kultur und Nachhaltigkeit zusammen?

Die Pyramiden von Gizeh. Foto: David McEachan

Sonntagskolumne

Unser Gastautor macht sich auf eine Schatzsuche nach der Kultur in der Welt der Nachhaltigkeit. Den Anstoss zum Thema Kultur und Nachhaltigkeit gaben ihm Jugendliche ausgerechnet beim Klettern. Wir bringen hier eine Kurzfassung und hängen die Langfassung als pdf an.

Als Klettercoach habe ich die Freude, jeden Dienstag ein gutes Dutzend 10- bis 14-Jähriger zu trainieren. Ein Mädchen aus meinem Kurs – nennen wir sie Marie – erzählte mir vor ein paar Wochen davon, dass sie in der Schule etwas über Nachhaltigkeit gelernt habe. Wie aus der Kanone geschossen fielen die hinreichend bekannten Säulen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Ökonomie und das Soziale. Ich konnte schnell lernen, dass es um Landwirtschaft, Tierwohl, Steuern, Arbeitsplätze, Fairness, Wohnraum und einiges mehr gehen würde. Dann stockte Marie: „Sag mal, wo ist da denn Platz für das, was wir alles im Kunst- und Musikunterricht in der Schule machen? Da geht es doch gar nicht um Geld, Natur oder Gerechtigkeit.“ Stimmt, dachte ich, wo würde ich sie einsortieren, die Kunst, die Musik? Welchen Platz hat die Kultur in der Nachhaltigkeit? Wo finden bildende Kunst, Architektur, Handwerk, Popkultur, Brauchtum oder Sprache in diesen Modellen Platz?

Uns beiden war klar, die Ökologie hat die Aufgabe, die natürlichen Grundlagen für den Menschen zu schützen und zu sichern. Das Soziale beschäftigt sich mit den Rechten und Pflichten der Menschen im Umgang miteinander. Die Ökonomie regelt als Mittler das ganze ‚Dazwischen‘, was oft als technologischer Fortschritt, Zivilisation oder Wohlstand beschrieben wird. Idealerweise bilden diese drei Säulen ein Gleichgewicht für alle lebende und zukünftigen Menschen dieser Erde. Nur welche Aufgabe die Kultur hat und wo sie in diesem Modell ihren Platz findet, war uns beiden unklar.

Kultur, finde deinen Platz

Das Thema lies mich nach der Trainingsstunde nicht mehr los. Als selbständiger Nachhaltigkeitsberater hätte ich eigentlich eine Antwort auf diese Frage haben müssen, hatte ich aber nicht. Also fing ich an, mich damit genauer zu beschäftigen und machte mich auf Schatzsuche. Während meiner Recherche wurde ich an das ‚gewichtete Säulenmodell der Nachhaltigkeit‘ von Prof. em. Volker Stahlmann erinnert. In seinem Modell aus dem Jahr 2008 wird aus der Säule der Ökologie ein ‚Fundament der natürlichen Ressourcen‘ und die Kultur zieht als neue, vierte Säule in sein Gebäude der Nachhaltigkeit ein. Das Dach bildete fortan die nachhaltige Entwicklung. Diese Gewichtung der Begriffe wirkte auf mich schon stimmiger.

Von der Ästhetik, dem Schönen und der Nachhaltigkeit

Bei meiner weiteren Suche landete ich recht schnell bei den Toblacher Gesprächen und ihren Thesen aus dem Jahr 1998, die unter dem Thema ‚Schönheit‘ standen. Dort fielen die Begriffe ‚Ästhetik‘ und ‚Handwerk‘. Letzteres wurde als ästhetische und nachhaltige Alternative zur Massenproduktion bezeichnet: „Kreativität und sinnvolle Arbeit in einer neuen Einheit von Planung und Ausführung auf hohem ästhetischem Niveau ist die Chance. […] Geringer Umweltverbrauch, Nützlichkeit und Funktionalität, Unaufdringlichkeit und soziale Verantwortlichkeit, Emotionalität und Sinnlichkeit werden die Ästhetik der Produkte der Zukunft kennzeichnen.“ Hier ging es mal nicht nur um den identitären oder territorialen Kulturbegriff (Volks-, Nations- oder Regionszugehörigkeit) oder nur um die ‚Schönen Künste‘, sondern auch um andere Kulturtechniken.

Kultur und Nachhaltigkeit
Schönheit und Nachhaltigkeit. Foto: Una Laurencic

Weiter fündig wurde ich beim Tutzinger Manifest von 2001. Zu lesen ist dort: „Nachhaltigkeit braucht und produziert Kultur: als formschaffenden Kommunikations- und Handlungsmodus, durch den Wertorientierungen entwickelt, reflektiert, verändert und ökonomische, ökologische und soziale Interessen austariert werden.“ Ganz im Geiste des gewichteten Säulenmodells nach Stahlmann. Unsere Kultur bildet demnach zum einen das, was Nachhaltigkeit zu erhalten und zu gestalten hat; trägt aber selbst auch zu dem Ziel bei, anderes in genau diesem Sinne zu erhalten und zu gestalten.

Von der Breite des Kulturbegriffes

Viele Quellen später stieß ich auf den Buchband ‚Kultur – Kunst – Nachhaltigkeit‘, herausgegeben von Hildegard Kurt und Bernd Wagner im Jahr 2002. Sie grenzen dort ihr Begriffsverständnis vom übergreifenden ‚anthropologischen Kulturbegriff‘ ab: „Kultur bezeichnet das gesamte Spektrum derjenigen kreativen Tätigkeiten, mit denen die Individuen und die Gesellschaft ihr Sosein − ob rituell oder kritisch, ob bildnerisch oder performativ, ob diskursiv oder spielerisch − reflektieren und immer wieder neu gestalten, um sich ihrer selbst zu vergewissern, um entwicklungsfähig zu bleiben oder zu werden.“

In diesen Tenor stimmt auch Michael Haerdter im gleichen Band ein. Er führt etwa auf, dass sich die Kunst schon vor der Zündung der ersten Atombombe mit den großen physikalischen Entdeckungen Plancks, Einsteins und Heisenbergs im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt hat, die breite Gesellschaft aber nicht. Wassily Kandinsky wird von ihm mit dem Satz zitiert: „Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich.“ Das Problem scheint zu sein, dass „Kunst, die sich als ein wachsames und mit ihren eigenen Mitteln überaus wirksames Element im Prozess lebensweltlicher Erfahrung begreift und präsentiert, […] in aller Regel von der Kritik abgelehnt oder ignoriert [wird] − ganz im Widerspruch zur Pluralität gestalterischer Verfahren und Modi in der zeitgenössischen Kunst.“

Die Schatzsuche kommt zu einem Ende

Was hat mich diese Schatzsuche nun gelehrt, was ich Marie beim nächsten Kletterkurs mittteilen kann? Ob die Kultur einen Platz in der Nachhaltigkeit verdient und wenn, welchen, hängt zunächst von der Breite des Kulturbegriffes ab. Ein breiterer Sammelbegriff für ‚Kunst und Kultur‘, als Kommunikations- und Reflexionsvehikel für nachhaltige Entwicklung erscheint schon einmal sinnvoll und notwendig zu sein. Die Kultur ist zudem beides, schützende und zu schützende im Sinne der Nachhaltigkeit. Sie übernimmt wie die anderen Säulen Aufgaben, um das Gebäude der Nachhaltigkeit zu tragen und ist gleichzeitig Teil von ihm. Kultur ist nicht nur Kunst, sondern viel mehr – gleichzeitig aber auch nicht alles, was nicht Natur ist. Sie ist das, was entsteht, wenn soziale Menschen dank eines ökologischen Fundaments und ökonomischem Wohlstand denken und handeln. Diese Perspektive und diesen Wert im Nachhaltigkeitsdiskurs zu übersehen, wäre nicht nur traurig, sondern schlichtweg fehlgeleitet. Ich bin Marie dankbar, dass sie mich auf diese Schatzsuche geschickt hat. Und wie so oft in der wirklichen Welt, lassen sich auf komplexe Fragen keine einfachen und endgültigen Antworten finden. Ich für meinen Teil bin jedoch schlauer geworden und fühle mich besser darauf vorbereitet, die Kultur künftig in die Nachhaltigkeitsdebatte einzuflechten. Bleibt nur zu hoffen, dass sich auch Marie mit diesen Antworten wohlfühlt.

Kurz- und Langfassung dieses Textes als pdf finden Sie hier: Timm Jelitschek – Von einer Schatzsuche nach der Kultur in der Welt der Nachhaltigkeit

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