Verschwinden die „schönen“ Alpen?
Alpenpanorama mit Kühen. Foto: Beat Hug
Buchtipp der Redaktion
Alpenforscher Werner Bätzing kämpft seit Jahrzehnten für den Erhalt des Natur- und Kulturraumes Alpen. Massentourismus, Autobahnen, Stauseen, Rückgang der Landwirtschaft und neue Gewerbegebiete bringen drastische Veränderungen. Sein eindrucksvoller Bildband zeigt Geschichte, Status quo und Lösungsvorschläge.
Wird das beliebte und oft ikonisierte Bild der »schönen Alpen«, das weltweit jeder kennt, bald verschwinden? Wie sich derzeit die Landschaften der Alpen verändern, die Ursachen und deren Wirkungen beleuchtet der Alpenforscher und emeritierte Professor der Kulturgeografie Werner Bätzing. Er beschäftigt sich seit über 40 Jahren wandernd, fotografierend und analysierend mit den Alpen. Mit seinem Buch „Die Alpen – Das Verschwinden einer Kulturlandschaft“ möchte er folglich den Betrachtern das „Lesen“ der Alpen näherbringen. Denn wer sich nur mit der idyllischen Seite befasst, übersieht das Spannendste: Das Verhältnis von Mensch und Umwelt in seiner ganzen Bandbreite des Nicht-Eingreifens über das Verändern bis zum Zerstören der Alpen.
Kein Bildband aus Alpenklischees
Es ist ganz und gar kein gewöhnlicher Alpen-Bildband, den man durchblättert und verzückt „Wow“ und „Ah“ und „Oh“ ausruft. Er unterscheidet sich wesentlich von anderen Bildbänden. Genau das macht ihn so außergewöhnlich. Viele Bücher bedienen das Klischee, das die Menschen von den Alpen sehen wollen. Sie bestärken das Sehnsuchtsbild von Wildnis, Rauheit, sportlichem Abenteuer oder ländlicher Idylle. Zumeist zeigen sie die perfekte Harmonie von Mensch und Natur. Das ist jedoch bei weitem nur eine Seite der Medaille, eine ziemlich beschönigte.
Bergziegen in der Kulturlandschaft der Alpen. Foto: Werner Bätzing
Werner Bätzing hat einen anspruchsvollen, äußerst informativen Bildband für all jene herausgebracht, die sich für die Alpen tiefgründiger interessieren und unter die Oberfläche eindrucksvoller Landschaftsbetrachtungen gehen möchten. Seine Auseinandersetzung mit der derzeitigen Entwicklung ist kritisch, er möchte wachrütteln. Und das tut er also sehr umfänglich. Er bringt den Betrachtern und Lesern das „Wesen“ der Alpen näher. Das sind die geografischen und geologischen Strukturen ebenso wie die Vegetations-, Siedlungs-, Wirtschafts- und Verkehrsstrukturen und ihr wechselseitiges Zusammenwirken.
Chronologie der Zerstörung
Beginnend mit den Alpenbildern, die wir normalerweise im Kopf haben, leitet der Autor seine Leser zu den Landschaften der Alpen in ihrem Naturzustand und wie sie sich in der Geschichte allmählich zu Kulturlandschaften wandelten. Folglich geht es weiter mit der „Modernisierung“ der Alpen in den verschiedenen Bereichen von Landwirtschaft, Industrie und Tourismus mit ihren Auswirkungen. Das Schlusskapitel bilanziert die heutige Situation und fragt nach der Zukunft der Alpen.
Video: Gespräch mit Werner Bätzing über seine Sicht auf die Alpen
Seine Bilanz fällt provokant aus: „Die Alpen verschwinden“. Was er damit meint, macht der Alpenforscher sehr anschaulich. Die traditionellen kleinräumigen Kulturlandschaften, die unser Kopfkino prägen, die lieblichen Bilder ländlicher Idylle, die offenen, frisch-grünen, saftigen Bergweiden verschwinden ebenso unwiederbringlich wie die Gletscher. Warum? Dort, wo der Mensch sich zurückzieht, Siedlungen und landwirtschaftliche Arbeit aufgibt, verbuschen die Alpen. Sie wandeln sich allmählich zurück zu einem bewaldeten, dunklen Hochgebirge – so wie sie vermutlich einmal gewesen sind, bevor die Menschen vor Jahrhunderten begannen, die Wälder für Ackerbau und Weidewirtschaft zu roden.
Verwalden oder zersiedeln – der doppelte Tod der Alpen
Dort, wo der Mensch stärker eingreift, werden die Alpen zersiedelt. Die Ortschaften wandeln sich zu gesichtslosen „Zwischenstädten“, die weder Stadt noch Land sind, und ihren Freizeit-, Wohn- und Gewerbegebieten. Die attraktiven Gipfelregionen indes werden mit großflächigen Sport- und Freizeitparks überzogen.
Freizeitparks auf den Alpengipfeln. Foto: Werner Bätzing
Auf den etwa 200 Seiten gibt es Wissenswertes über Alt- und Jungsiedelräume, über die religiöse Gestaltung der Landschaft, die Entstehungsgeschichte der Alpen als Tourismusregion und Strukturen der traditionellen und modernen Landwirtschaft. Auch zum traditionellen Leben der Älpler erhält der Betrachter einen guten Eindruck. So war es für sie beispielsweise zunächst verwunderlich, dass die Touristen plötzlich nur zum Spaß die Berge bestiegen oder warum in die Natur gar nicht eingegriffen werden solle. Kulturlandschaftsschutz und Wildnisentwicklung müssen dementsprechend zwei sich ergänzende Naturschutzstrategien sein.
Werner Baetzing hat ein umfassendes Kompendium über das Wesen der Alpen verfasst. Wer sich darauf einlässt, seine hochinteressanten Texte genauer zu lesen, wird indes die Alpen mit neuen Augen betrachten. Und er hat obendrein Lösungsvorschläge parat für die Zukunft der Alpen sowie Beispiele, die bereits Hoffnung machen, dass die „schönen“ Alpen nicht verschwinden. Sein Buch ist ein absolutes Muss für Alpenbesucher, Einheimische, Verantwortungsträger, Forscher und Didaktiker.
In Tegernsee läuft derzeit das 16. Internationale Bergfilm-Festival, mehr dazu: