Langes Leben

Herausforderungen einer Gesellschaft des langen Lebens

Prof. Dr. Thomas Klie – Vortrag bei der Finissage. Foto: Sebastian Snela

Finissage in Weyarn

Die Lebenserwartung in Deutschland steigt und damit auch die Zahl der pflegebedürftigen Menschen. Wie können wir miteinander dafür sorgen, dass ein langes Leben kein Fluch, sondern ein Segen ist? Prof. Dr. Thomas Klie versuchte, diese Frage zu beantworten.

Die dreiwöchige Ausstellung im Bürgergewölbe Weyarn war Teil des umfangreichen Programms im Rahmen der Feierlichkeiten des 20-jährigen Jubiläums der Domicilium Hospiz-Gemeinschaft, bei dem ihre Sorgearbeit für sterbende und schwerkranke Menschen gefeiert und vorgestellt wird.

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Bei der Finissage wurde die Rückschau mit einem Ausblick auf dieses gesellschaftlich so relevante Thema verbunden. Dazu wurde Prof. Dr. Thomas Klie aus Starnberg eingeladen, einen Vortrag zu halten. Er ist Rechtswissenschaftler und Sozialexperte, Buchautor und Politikberater zu Fragen der Weiterentwicklung des Gesundheitswesens und der Pflege.

Das lange Leben

Ausgangspunkt seines Vortrages war die demographische Entwicklung in der Bundesrepublik, nach der sich die durchschnittliche Lebenserwartung stetig erhöht. Auch wenn es regionale Unterschiede gibt, sprechen die Zahlen für sich. Das Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung steigt und damit auch die Zahl der pflegebedürftigen Mitbürger und Mitbürgerinnen. Im Jahr 2022 gab es 5,2 Millionen Pflegebedürftige, und es wird mit einer Erhöhung auf 6,1 Millionen im Jahr 2030 und auf 6,8 Millionen in 2040 gerechnet.

Diesem erhöhten Bedarf steht ein Pflegekräftemangel entgegen. In der Zukunft werden wir mit weniger Fachkräften mehr Bedürftige versorgen müssen. Bundesländer gehen mit unterschiedlichem Erfolg an dieses Problem heran. Der Freistaat Bayern hat dabei keine gute Perspektive zu erwarten, da im Jahr 2029 der Kipppunkt zu erwarten ist, an dem mehr Pflegekräfte altersbedingt aus dem Beruf ausscheiden als neuausgebildete Pflegekräfte hinzukommen werden.

Langes Leben
Dr. Andreas Weidmann bei der Podiumsdiskussion. Foto: Sebastian Snela

Eine weitere Herausforderung des demographischen Wandels betrifft die Frage der Finanzierung der Pflege- und Rentenversicherung. Die geburtenstarken Jahrgänge erreichen das Rentenalter in einem Ausmaß, das mit den Arbeitseintritten der nachkommenden Generationen nicht zu ersetzen ist. Damit wird es immer schwieriger, das Sicherheitsversprechen der Renten- und Pflegeversicherung einzulösen. Das verursacht ein Ungerechtigkeitsgefühl und Angst bei Menschen und nicht zuletzt Misstrauen und Demokratieverdrossenheit.

Im Widerspruch zum allgemeinen Eindruck, so betonte Prof. Dr. Klie, ist die Familie nach wie vor der größte Pflegedienstleister. Die gesellschaftliche Aufgabe ist es, diesen Einsatz der Familienangehörigen anzuerkennen und Formen der konkreten Unterstützung zu finden. Denn auch diese Säule der Sorgearbeit durch Familieneinsatz gerät durch Arbeitsmobilität und Wohnortwechsel der Angehörigen zunehmend ins Wanken.

Sorgende Gemeinschaft als Antwort

Thomas Klie sieht das Konzept und die Praxis der sorgenden Gemeinschaft (engl. „caring communities“) als ein Weg, der uns befähigen kann, den Herausforderungen des langen Lebens gerecht zu werden. Dabei umfasst Sorge in seinem Verständnis mehr als auf den ersten Blick erfassbar ist. Es ist zugleich die Sorge um den anderen sowie um sich selbst, die Sorge um ein gutes Leben für alle sowie um eine demokratische Gesellschaft. Grundlage der sorgenden Haltung ist die doppelte Sorgebedürftigkeit: menschliche Wesen sind sowohl hilfe-bedürftig als auch helfens-bedürftig. Unser Glück erfüllt sich nicht in Selbstbezug, sondern in Beziehung zu anderen und in der Erfahrung, für andere bedeutsam zu sein.

Langes Leben braucht Vertrauen in den Staat

Gesellschaftliche Probleme wie der demographische Wandel sind zunehmend so komplex, dass sie ohne Vernetzung und Vertrauen, ohne geteilte Verantwortung und Professionalität, ohne vitale Zivilgesellschaft und Ideenoffenheit nicht lösbar sind. Sorgende Gemeinschaften sind ein systemischer Ansatz, diese kulturellen Voraussetzungen zu sichern und daraus zu handeln. Sie orientieren sich an der Frage nach dem guten Leben für alle Bürger bis zuletzt und greifen die Beispiele guter Praxis auf (Hospizarbeit, Familienrückhalt, Nachbarschaftshilfe). Sie sind ein Gegenentwurf zur Vertriebswirtschaftlichung aller Lebensbereiche und verbinden existenzielle Erfahrungen der Menschen mit Fragen nach angemessenen politischen Rahmenbedingungen. Sorgende Gemeinschaften kommen von unten und widmen sich dem ungedeckten und „versteckten“ Bedarf nach Sorge und Unterstützung.

Als die entscheidende Voraussetzung für eine solidarische Gesellschaft erhebt Prof. Dr Klie das Vertrauen. Die Bürgerinnen müssen Vertrauen in den Staat haben (im Kontext des langen Lebens etwa in die Sicherheit der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung) so wie der Staat seinen Bürgern vertrauen soll. Denn, wie vom Soziologen Heinz Bude festgehalten, „Vertrauen eröffnet Perspektiven und ermöglicht Handeln in komplexen und vertrackten Situationen“. Es erschließt das Menschenpotenzial und erweckt Engagement, lässt Kompetenzen der Mitarbeiter und Mitbürger Früchte tragen.


Betty Mehrer, Seniorenbeauftragte der Gemeinde Weyarn. Foto: Sebastian Snela

An der anschließenden Podiumsdiskussion nahmen Dr. Andreas Weidmann, Michael Pelzer, Betty Mehrer und Helena Snela teil. Auch sie betonten das Vertrauen als wichtigen Faktor und gaben Beispiele, wie dessen Vorhandensein der Schlüssel für Erfolg auf Vereins-, Organisations- und Gemeindeebene sein kann.

Die Frage ist, welcher Weg zu diesem Vertrauen führt. Vor mehr als 20 Jahren kam ein todkranker Mann zu Bogdan und Helena Snela ins Domicilium in Weyarn und bat sie, ihn in seinem Sterbeprozess zu begleiten. Das Ehepaar hielt inne und fand in der Stille die Zuversicht, in die Aufgabe hineinwachsen zu können. Vielleicht ein Wegweiser zum Vertrauen für uns alle.

Die Domicilium Hospizgemeinschaft feiert in diesem Jahr in 20jähriges Bestehen. Alle Veranstaltungen finden Sie hier.

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