Strukturen des Daseins
Louise Bourgeois‘ Spinne hat eine Botschaft: sie steht für das Mütterliche, Beschützende. Foto: IW
Ausstellung in München
Louise Bourgeois gilt als bedeutendste Künstlerin der Gegenwart. Über 70 Jahre hinweg hat sie ein einzigartiges Œuvre von hoher Symbolkraft geschaffen. Ihr Spätwerk die „Zellen“ zieht in München die Betrachter unweigerlich in den Bann.
Als sie 98-jährig im Jahr 2010 starb, hinterließ die in Paris geborene Bildhauerin der Nachwelt ein außergewöhnliches, vielschichtiges und umfangreiches Werk. Beachtet wurde sie in der Kunstwelt aufgrund ihrer strikten, unerbittlichen, direkten Kunst. Geehrt jedoch hat man sie erst als sie bereits 70 Jahre alt war, mit Retrospektiven in USA und in Europa, Teilnahme an der „Biennale“ und der „documenta“.
„Durch Kunst kann man sich selbst heilen.“
In München wird ihr skulpturales Spätwerk, die „Zellen“, zum ersten Mal in großem Umfang präsentiert. Bourgeois verstand die Zelle als einen freundlichen, schützenden Ort der Geborgenheit, in den man sich zurück ziehen kann, um seinen eigenen Gedanken und Erinnerungen nachzuhängen. Auf die Besucher der Ausstellung mögen die Zellen hingegen zunächst unheimlich wirken. Sie wandeln gleichsam durch eine verstörende Welt, die geheimnisvoll ist, abstoßend und faszinierend zugleich. Selbst was Geborgenheit symbolisieren soll, hat etwas Beängstigendes. Der Betrachter wird in die Rolle eines Voyeurs versetzt, lugt durch schmale Türen, durch Käfiggitter auf die sehr persönlichen Gefühle der Künstlerin, die zumeist schmerzvoll sind. Jede Zelle ist zugleich Schutzraum und Gefängnis. Bourgeois Arbeit war für sie eine Art Psychoanalyse, die Kunst und Leben, Körper und Seele vereint.
„Ich brauche meine Erinnerungen“
Erinnerungen an ihre Kindheit durchziehen das vielfältige Schaffen von Louise Bourgeois. Wiederkehrende Themen sind Angst, Einsamkeit, die Furcht vor dem Verlassenwerden, Schuld und Schmerz, Zerbrechlichkeit, Geborgenheit. Mit der sanften Mutter hat sie eine tiefe Liebe, mit dem tyrannischen Vater jedoch eine ebenso tiefe Hassliebe verbunden, die sich bildhaft widerspiegelt. Bourgeois stärkstes, wiederkehrendes Motiv ist die Spinne. Sie dominiert auch den Hauptraum der Ausstellung, als Wächterin einer der „Zellen“. So unheimlich das auf den ersten Blick aussieht, Bourgeois Spinne hat eine andere Botschaft: sie steht für das Mütterliche, Beschützende. Die Mutter in Paris war Restauratorin alter Gobelins gewesen. Daher ist die Arbeit mit textilen Materialien für die Künstlerin eng mit der Kindheitserinnerung verbunden. Ihr New Yorker Atelier hatte sie in einer ehemaligen Näherei eingerichtet, deren alte Gerätschaften und Gegenstände sie in ihre Installationen einfließen ließ. So tauchen in vielen der Erinnerungsinseln Garnspulen auf und hängende, verbindende Fäden, als Symbol des Verbunden-Seins.
Gratwanderung Louise Bourgeois in München
„Zellen“. Foto: IW
Ihre strukturalen Arbeiten sind eng an die Architektur und Geometrie geknüpft. Treppen, die im Nirgendwo enden und gläserne Kugeln, die scheinbar schweben, bevölkern die Zellen. Große Holzkugeln symbolisieren das Weibliche, unzählige Spiegel „zerstückeln“ die Ansichten. Ein wichtiges Symbol ist die Spirale, die sich in zwei Richtungen dreht, Unendlichkeit. Hängende Kleidungsstücke und aus Textilien gefertigte Figuren sind Träger von Erinnerungen. Wiederherstellung und Ausbesserung gilt ebenso für körperliche und seelische Zustände, als auch für Gegenstände.
Facetten des Schmerzes
Mit ihren „Zellen“ hat sie Schutzräume geschaffen, Zufluchtsorte, Orte des Erinnerns sowie des Vergessens, aber auch die der Rache und des Schmerzes. Es sind unterschiedliche Arten von Schmerz: physischer, psychischer, emotionaler, intellektueller Schmerz. In ihnen begibt sich der Betrachter auf eine Gratwanderung. Wann wird das Emotionale körperlich, wann das Körperliche emotional? Es sind starke, bewegende und zugleich fragile Räume, die mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Vor allem aber berühren sie. Die Kunst von Louise Bourgeois spinnt ihre Besucher allmählich ein.