Wenn der Wald in die Gedichtzeilen fließt
Lyriker Markus Hallinger lebt im Grünen. Foto: Denis Bald
Neue Gegenwartslyrik aus dem Landkreis
Lyriker Markus Hallinger aus Frauenried hat nach seinem mit dem Münchener Lyrikpreis ausgezeichneten Gedichtband „Gesummsel“ einen weiteren Band nachgelegt. In „Würfelbruch“ begibt er sich noch tiefer in den Wald, hinein in die Struktur von Rinde und Moos – und in die Täuschungen der Wahrnehmung.
Nimmt man den Lyrikband in die Hand, fällt sogleich die haptisch angenehme Struktur des Umschlages auf. Man kann den „Würfelbruch“ be-greifen und spüren. „Der haptische Sinn ist der wichtigste Sinn des Menschen“, sagt Markus Hallinger. Es geht immer wieder um Wahrnehmung in seinen Gedichten. Und Würfelbruch? Hallinger klärt auf: Es sei ein Fachbegriff aus dem Wald, beschreibt sich zersetzende, verfallende Holzstrukturen, so genau müsse man das aber nicht wissen. Nein, aber begreifen, mit der Hand und mit dem Kopf und mit dem Herzen auch. So wie den Wald, die Bäume, Äste, das Getier, die noch so kleinste Struktur – und so wie seine Gegenwartslyrik.
„Wenn die Dinge zu atmen beginnen, schlagen sie über mir zusammen“
Markus Hallinger. Foto: Denis Bald
Markus Hallinger ist ein Beobachter, den die Fragen zur Sinneswahrnehmung umtreiben: Kann ein Blinder nach einer Augenoperation den Gegenstand plötzlich sehend wiedererkennen, den er zuvor nur ertastet hat? Damit befassten sich schon Herder und Leibnitz und auch den Frauenrieder Lyriker lässt das Thema nicht los. Er geht den Sinneswahrnehmungen auf den Grund, im Wald in seiner geheimnisvollen, lebendigen Vielfalt.
„Getier unter der Decke. Allerlei Käfer
und der Sinn geht einher mit dem Atem…“
Gegenwartslyrik, die hinterfragt und defragmentiert
Hallinger tastet und sieht und riecht und schmeckt und atmet den Wald. So beginnt sein Lyrikband mit einem sinnlichen Landschaftserleben in der Nahperspektive. Die Sprache benutzt er als Sinnesinstrument in der Hoffnung, dass auch im Lesenden ein plastisches Sehen entsteht. Latschen kiefern in Markus Hallingers Zeilen und Blüten blättern zackig und fingernd. Die Sprache ist ein Rausch draußen in einer „Landschaft wie herausgestreckte Zunge, salzig und rissig“. Zugleich ist sie ein Hinterfragen, ein Defragmentieren und Neuordnen.
„Rauschen und Flimmern
aus fallenden Blättern und blätternden Rinden. Der Wald ist mein Zimmer.“
Immer dabei: Markus Hallingers vierbeiniger Gefährte. Foto: Denis Bald
„Natur und Struktur… Schichten, Überlagerungen
Ablagerungen, Werfungen.
Keine Beschwörungsformel, kein Zwang unterwirft sie.“
Dann, der Leser gelangt zum zweiten Teil und der Mensch an die Grenze der Wahrnehmungen: „Was passiert mit demjenigen, der sich auf diese Art von Wahrnehmung einlässt?“, fragt sich Hallinger. Er geht der Frage nach in seinen Worten und schwebenden, zerklüfteten Sätzen, die mal fließen wie ein hell klingender Gebirgsbach, mal wie ein träger Fluss.
Ist Wahrnehmung von Landschaft aus der Ferne möglich?
Im dritten Teil leitet der Lyriker die Wahrnehmung in die Ferne. Was passiert mit einer Landschaft, die weit weg ist? Können wir noch wahrnehmen und begreifen, was wir nur aus dem Fernsehen und Internet kennen? Das Internet verschiebe unsere Sinneswahrnehmungen, meint Hallinger, das Leben finde zunehmend vor Bildschirmen statt, wie verändere das unsere menschlichen Beziehungen?
„Würfelbruch“ ist ein Bruch mit den Wahrnehmungen. Ein Hinführen und Hinterfragen, ein fein und sorgfältig angelegtes Gitternetz aus Sprache und Betrachtungen. Drei Jahre hat der Lyriker daran gearbeitet. All das Zweifeln und Vor- und Zurückweichen, das Infragestellen dessen, was geschrieben ist, lässt ihn an den Gedichten feilen, bis die Worte, die Zeilen, dort sitzen, wo sie sein sollen.
Jetzt, wo das Buch erschienen ist, kann er es loslassen: „Du Leser, sammle die Kapseln ein, mach dich an die Ernte, an die Operation. Verschlüsselt schreiben – entschlüsseln“, schreibt er in einem Nachtext in den Signaturen, dem Forum für autonome Poesie.
Im Grafiker und Fotograf Denis Bald hat Markus Hallinger einen Menschen gefunden, der auf Anhieb fühlt und versteht, was er meint. Von Bald stammen die großartigen Fotos und auch die fein zerklüftete Grafik auf dem Buchumschlag, die ebenfalls dazu beiträgt, dass man das schmale Bändchen gern in die Hand nimmt. Markus Hallingers Lyrik lässt sich nicht konsumieren, sie will entdeckt und begriffen werden.