Melancholie: mit Erich Kästner betrachtet
Die vielen Kästners. Grafik: Henning Kurz
Online-Vortrag
Einen anderen Erich Kästner lernten die Teilnehmenden des Online-Vortrags von Henning Kurz „Melancholie für Anfänger – Mit Kästner auf Spurensuche“ der vhs Oberland kennen. Der insbesondere für seine Kinderbücher bekannte Schriftsteller war viel mehr auch Philosoph.
Er schätze die zwei Erichs sehr, bekannte Henning Kurz, vhs-Leiter in Grenzach-Wyhlen, der vor einiger Zeit bereits einen spannenden Vortrag über Erich Fromm hielt:
Lesetipp: Woran können wir uns heute orientieren?
Jetzt also der zweite Erich, mit dessen berühmten Text „Die Entwicklung der Menschheit“ er Erich Kästner vorstellte. Der Text schließt mit den Worten: „Bei Lichte betrachtet sind wir immer noch die alten Affen“. Obwohl wir Atome spalten und nachweisen können, dass Kaiser Nero Plattfüße hatte.
Entwicklung ist nicht Fortschritt
Dieses Gedicht spiegle die philosophische Grundhaltung der Skepsis Erich Kästners, interpretierte der Vortragende, für den Entwicklung nicht zwingend Fortschritt gewesen sei.
Der Kinderbuchautor. Grafik: Henning Kurz
Den meisten Menschen sei er als Kinderbuchautor so bekannter Bücher wie „Emil und die Detektive“ bekannt, Kästner aber habe viele weitere Seiten. Er sei politisch engagierter Satiriker, Kabarettist, Lyriker, Romancier und Journalist gewesen. Schon 1930 habe er 30-jährig seinen Lebenslauf als Gedicht verfasst und bekannt, dass er sich zwischen die Stühle setze. Seine skeptische Grundhaltung zeigt der Schluss: „Ich kam zur Welt und lebe trotzdem weiter.“
Im Vorwort seines, wie Henning Kurz betonte, großartigen Romans „Fabian“ schrieb Erich Kästner 1950, dass er als Satiriker auf verlorenem Posten stehe. „Kästner war Moralist, Humanist und Aufklärer und vertritt eine moralische Haltung, auch wenn er über Unmoralisches schreibt“, so der Vortragende.
Melancholie immunisiert. Grafi: Henning Kurz
Die distanzierende Melancholie sei keineswegs Resignation, Depression oder Fatalismus, sondern im Gegenteil: sie immunisiere gegen Fundamentalismus ebenso wie gegen Hedonismus und Askese. Sie könne am besten mit der Freudschen Definition als Unbehagen an der Kultur beschrieben werden. Die Ambivalenz zwischen Ich und Du, zwischen innen und außen sei ein Zeichen seelischer Gesundheit und bilde einen Gegenpol zum heutigen Zwang zu Selbstoptimierung und Persönlichkeitstuning.
Melancholie und Humor. Grafik: Henning Kurz
Ein wichtiger Part bei der Melancholie sei der Humor, bezog sich Henning Kurz auf Kierkegaard, der sagte: „Das Melancholische hat am meisten Sinn für das Komische.“ Humor befreie auch aus neurotischem Narzissmus.
Der Vortragende stellte Erich Kästner in seiner Vielfalt als Lyriker, Romancier, Kinderbuchautor, Unterhaltungsschriftsteller, Satiriker, Autobiograf und Biograf vor und empfahl Kästner-Texte als Anregung zum Philosophieren.
Kästners Position. Grafik: Henning Kurz
So das „Eisenbahngleichnis“, in dem der Autor ein philosophisches und lyrisches Bekenntnis zur Reise des Lebens abgibt, keiner weiß, wohin, warum oder wie lang der Zug fährt. Dieses Verlorensein oder ambivalente Grundbefindlichkeit komme auch in dem Gedicht „Traurigkeit, die jeder kennt“ zum Ausdruck. „Es ist, als ob die Seele unwohl wäre.“
Melancholie ist keine Krankheit…
Henning Kurz betonte noch einmal, dass Melancholie keine Krankheit sei, sondern im Gegenteil eine Therapie, denn sie bewahre eine skeptisch-ironische Distanz, sehe sich in einem größeren Kontext, sei bei sich und nicht außer sich, sei gefeit vor Fanatismus und versuche nicht rettende Rezepte zu verkaufen oder sei nicht auf verzweifelter Suche nach einem Erlösungskonzept. Mit dem Kästnerschen Aspekt „trotzdem“ schloss er seinen Vortrag, dem sich eine lebhafte Diskussion anschloss.
… sondern ein produktiver und konstruktiver Zustand
Thomas Mandl, Leiter der vhs Oberland bedankte sich für das Neuland, das Henning Kurz geboten habe und verwies auf den Stich von Albrecht Dürer „Melencolia“. Dort werden die Depression und die Unfähigkeit etwas zu tun symbolisiert, während hier bei Erich Kästner doch eine andere Grundstimmung herrsche. Die Kästnersche Melancholie beinhalte einen produktiven und konstruktiven Zustand, fasst Henning Kurz zusammen. Dies geschehe am besten allein und in der Natur und bilde einen Gegenpol zur herrschenden Kultur der Oberflächlichkeit, in der der Mensch auf schnelle Effekte und Affekte konditioniert sei.
Henning Kurz. Foto: privat
Er wies darauf hin, dass wir heute einem gesellschaftlichen Ideal entsprechen wollen und Glückscoaches gaukelten uns vor, wie wir ständig glücklich sein könnten. Im Gegenteil müssten wir uns unseren Ängsten stellen, anstatt ständig Schauspieler der eigenen Existenz zu sein. Dazu gehöre auch, dass eigene Bedürfnisse wahrgenommen werden und nicht von außen oktroyierten nachgelaufen werde.
Die Angst vor der Freiheit führe zu Unterwerfung und Selbstentfremdung, „obwohl wir frei und selbstbestimmt leben könnten“. Vermutlich sind wir halt immer noch die alten Affen.