Mitgefühl in Grenzsituationen
„vielleicht leicht“. Foto: gesina.stärz.de
Buchtipp von KulturVision
In ihrem vierten Roman greift Gesina Stärz ein Thema auf, das uns zeigt, dass es nicht nur Corona sondern noch ganz andere dramatische Probleme gibt. „vielleicht leicht“ ist die Geschichte einer Frau, die aus dem Leben katapultiert wird und sterben möchte. Morgen liest Gesina Stärz online.
Wie der Mensch in Grenzsituationen reagiert, das interessiert die Holzkirchner Autorin, die ihren neuen Roman auf der Leipziger Buchmesse vorstellen sollte. Am 12. März waren Lesungen vorgesehen. Seit 14 Tagen ist der in der edition 8 erschienene Roman im Handel erhältlich.
War es ein geradezu unvorstellbares Thema, nämlich der Mord am eigenen Kind in ihrem ersten Roman „kalkweiss“ und war es die Geschichte einer Frau, die eingefroren in ihrer Ehe, die obskure Idee hat, Morde ohne Motiv zu begehen in ihrem zweiten Buch mit dem Titel „Die Verfolgerin“, verwob sie in ihrem dritten Roman die Geschichte des Großvaters anhand seiner Feldpostbriefe mit dem Erleben seiner Enkelin in der Gegenwart. „überwiegend glücklich“.
Von der Juristin zum Pflegefall
Jetzt legt Gesina Stärz ihren vierten Roman „vielleicht leicht“ vor, dessen Titel eine Botschaft ist. Die erfolgreiche Juristin Susan L. ist aus der Mitte ihres Lebens durch einen Unfall zum Pflegefall geworden, eine schon vorher diagnostizierte unheilbare neurologische Erkrankung tut das Übrige, so dass sie sich in einer Grenzsituation wiederfindet.
Sie weiß, dass es nicht besser werden kann, nur schlimmer. In dieser auswegslosen Lage rettet sie sich zunächst in einen bösen Sarkasmus, mit dem sie alle Menschen um sich herum schikaniert, um später ihrem Wunsch nach Sterbehilfe Gehör zu verschaffen.
Gesina Stärz wählt für ihren Roman eine Art Dokumentation. Sie erzählt die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven. Sowohl aus Sicht der Erkrankten, als auch der Sicht zweier Pflegekräfte, der gesetzlichen Betreuerin, der Heimleiterin, der Sozialarbeiterin und der Sicht eines alten Freundes.
Sämtliche Protagonisten sprechen in der Ich-Form und vermitteln dadurch ihre enge, aber unterschiedliche Beziehung zu Susan L. Der Autorin gelingt durch dieses schriftstellerische Herangehen eine differenzierte Sicht auf das Geschehen einerseits und eine lebendige Darstellung andererseits.
Gesina Stärz. Foto: privat
Auch in der Sprache differieren die einzelnen Kapitel. Susan L. spricht anfangs abgehackt, staccato, ganz kurze Sätze. In der Sprache der Heimleiterin spürt man das Bemühen, alles richtig machen zu wollen. Pflegehelfer Nathan hat einen eher heiteren Ton als Stationsnarr drauf.
Die Sozialarbeiterin mit dem vielsagenden Namen Gesa Tore versucht mit allen Kräften, gute Momente in das Leben von Susan L. zu bringen. Sie fährt mit ihr zum Jazzkonzert, geht mit ihr in ein nobles Restaurant, erntet aber dafür nur Spott, denn Susan L. hat sich in sich selbst zurückgezogen, lässt niemanden mehr an sich heran und stößt mit ihrer Art alle vor den Kopf.
Vom Subjekt zum Objekt
Die Krankheit hat sie einerseits in ihrer Persönlichkeit verändert, aber andererseits ist ihre Persönlichkeit als Subjekt auf der Strecke geblieben. In der Abhängigkeit vom Pflegepersonal wird sie zum Objekt. Diese Tatsache wird dem Leser durch die Erzählweise immer deutlicher vor Augen geführt.
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Im Fokus des Buches steht letztlich das Thema Sterbehilfe. Susan L. beschließt ihrem Leiden ein Ende zu machen. Die Aufgabe aber einer Pflegeeinrichtung ist es, und das betonen die Mitarbeiter in unterschiedlicher Weise, dafür zu sorgen, dass sich der Patient wohlfühlt und dass der Wunsch zu sterben nicht auftaucht. Was aber, wenn trotz intensiver Bemühungen Wohlfühlen nicht mehr machbar ist? Wie gehen Mitarbeiter in einer Pflegeeinrichtung mit derartigen Grenzsituationen um?
Mitgefühl in Grenzsituationen
Gesa Tore erkennt, dass es für einen Betroffenen einen Punkt gibt, an dem medizinisches Handeln zur Heuchelei, zum Selbstzweck wird. Und sie erkennt: Es geht um den Menschen an sich. Das Buch ist in all seiner Sachlichkeit, Klarheit und bar jeder Sentimentalität ein leidenschaftliches Plädoyer für die Würde des Menschen und für Mitgefühl insbesondere in Grenzsituationen. Es lässt den Leser nicht los, bis er auf der letzten Seite des Lebens angekommen ist.
Das Buch schließt mit einer sachlichen Erklärung zur Gesetzeslage in Deutschland, insbesondere in Pflegeinrichtungen, wonach eine geschäftsmäßige Förderung des Sterbeprozesses gesetzeswidrig ist. Deshalb entscheiden sich immer mehr Menschen für das Sterbefasten und damit für ein selbstbestimmtes Sterben.
Gesina Stärz in der morgigen Sonntagsmatinee
Ich habe das 170 Seiten umfassende Buch an einem Tag gelesen, es hat mich nicht losgelassen. Wer einen ersten Eindruck in die Sprachgewalt des Romans bekommen will, morgen Vormittag wird Gesina Stärz in der ersten Sonntagsmatinee um 11 Uhr von Kultur Valley, der Kulturwerkstatt im Oberland und KulturVision lesen. Darüber hinaus sind der Gitarrist Benjamin Wittmann, Watching the Cat mit dem Zither-Manä und die Hoki Youth Band am Start. Besuchen Sie einfach wieder diese Seite.