Leben in einer fragmentierten Welt
Lyriker Markus Hallinger. Foto: Denis Bald
Porträt des Lyrikers Markus Hallinger
Wo schlummern die Sätze? Sie erwachen halb sechs. Das ist die Zeit, zu der sich Markus Hallinger an den Schreibtisch in Frauenried setzt. Vielleicht blättert er noch in einem Buch von Thomas Kling, dem 2005 verstorbenen großen Gegenwartslyriker. „Die richtigen Anstöße kommen beim Lesen“, sagt er.
…der aber die Worte, die Sätze sind einfach schon da. Und sie wollen ans Tageslicht. Dann schreibt er sie nieder. Manches erscheint auch beim Gehen. Markus Hallinger geht viel. Sein Hund braucht Ausgang und liebt den Wald ebenso wie sein Herr. Aus dem Wald zieht Markus Hallinger Kraft und Inspiration, er fließt erdig, grün und geheimnisvoll in die Zeilen. Der Münchener Lyrikpreis ist wohlverdient.
Der Wald ist ein Texteindruck, ein Fabelbuch, wild verschlungen
mit Himbeerranken und Heckenrosen.
Mit Münchener Lyrikpreis geehrt
Die Form des Gedichtes ist im Kopf. Sie ist ein Raster aus Punkten und Linien, das es mit Sprache zu füllen gilt. Zu Beginn gibt es viele Leerstellen. Das Gedicht läuft nicht vom Anfang zum Ende, es folgt eigenen Regeln. Die Leerstellen füllen sich, sie verändern und verschieben sich. Es ist ein fragmentiertes Arbeiten. Der große Schwung harrt innerlich – eine Anspannung, die sich manchmal löst. Dann fließen die Zeilen, reihen sich die Sätze aneinander wie ein Fluss. Man sieht diese Satzflüsse in den Langgedichten. Zwischen den Flattersätzen, den springenden Zeilen, fließt ruhig und unbeirrt ein breiter Strom.
Markus Hallinger an seinem Schreibtisch. Foto: Denis Bald
„Gesummsel“ heißt das 24-seitige Langgedicht, mit dem Markus Hallinger 2014 den Münchener Lyrikpreis erhalten hat. Es ist beim Verlag Peter Engstler erschienen. Das quadratische Büchlein ist aus fein strukturiertem Papier. Das Cover ziert eine Grafik des in Holzkirchen aufgewachsenen Künstlers Peter Lang, die mit den Zeilen korrespondiert.
Frage nach Wahrnehmung und Erinnerung
Hallinger beschäftigt sich in seiner Lyrik mit der Frage, wie Wahrnehmung und Erinnerung in Sprache gebracht werden kann. All das Zweifeln und Vor- und Zurückweichen, das Infragestellen dessen, was geschrieben ist, lässt ihn an den Gedichten feilen, bis die Worte, die Zeilen, dort sitzen, wo sie sein sollen. „An Einzelgedichten mit einem strengen Thema arbeitet sich in der Gegenwartslyrik kaum mehr jemand ab“, sagt er. Ein bestimmtes Thema ist natürlich im Kopf. Die Frage ist, wie können einzelne Begriffe, die sich mit dem Thema befassen, in den Text integriert werden, ohne dass er kitschig wird? So sickern viele der Worte, auch ganze Sätze, zwischen die Zeilen. Es entstehen Lücken des Ungeschriebenen, die der Leser aufspüren und selbst füllen kann.
Markus Hallinger am Schreibtisch in Fraunried. Foto: Denis Bald
„Unsere Wahrnehmung ist nicht mehr so konzentriert, wie es früher war“, sagt Hallinger, „sie ist aufgesplittert, alles ist komplex und man muss sich die Wirklichkeit zusammensuchen“. Auf diese Weise versucht er auch Kindheitserinnerungen herankommen zu lassen. Er überhöht sie, zweifelt sie an, fragmentiert sie; und sie leben weiter, in und zwischen den Zeilen:
…ich hatte das Glück, das maßlose Glück;
Ohne Sinn und Verstand
den ellenlangen Ellenbogen gespannt wie ein Bogen.
Es lief wie ein Käfer über den Handrücken, kroch
den ärmellosen Arm hinauf. Kein Maß beugte sich,
aber die Sonne im Gesicht brannte, hinter
den geschlossenen Augen drehten sich schwarze Punkte,
kleine Gestirne wurzelten in den Augstöcken schwammen.
Münchener Lyrikpreis für Gedichte aus „Gesummsel“, Buchcover. Foto: Peter Engstler Verlag
Seine Gedichte zu lesen ist wie das Betrachten eines Bildes. Man kann auf Details schauen oder das Ganze wahrnehmen. Aus jedem Blickwinkel muss es funktionieren, deshalb arbeitet Markus Hallinger mitunter zwei, drei Jahre daran. „Warum Lyrik in der Öffentlichkeit so wenig wahrgenommen wird, liegt vielleicht daran,“ sagt er, „dass der Leser mit dieser abgelenkten, zersplitternden Wahrnehmung nach bequemen Texten sucht, das bietet die Gegenwartslyrik nicht.“ Das will auch seine Lyrik nicht. Gerade ist ein neues Langgedicht fertig. Es umfasst 45 Seiten und erscheint voraussichtlich im November.
Gerechtigkeit hat für den Lyriker viel mit Gleichheit und Gleichwertigkeit zu tun: Es ihm egal – nicht gleichgültig – wo jemand herkommt und wie er aussieht, das ist seine Grundhaltung. Und genauso gern wie Markus Hallinger Lyriker ist, schlüpft er spätestens gegen neun Uhr morgens in sein anderes Leben – als Schreinermeister, leidenschaftlicher AbH-Lehrer und Werklehrer am Förderzentrum Hausham.