Multiple Krisen: Wissen allein reicht nicht
Professor Armin Nassehi von der LMU München. Foto: Petra Kurbjuhn
Vortrag in Weissach
Ein Feuerwerk an Wissenschaft, praktischen Beispielen und Humor lieferte Armin Nassehi mit seinem Vortrag „Multiple Krisen“ im Rahmen des Korbinians Kolleg im Hotel Bachmair Weissach. Der Soziologe gab spannende Impulse und heilte so manchen von seinen Glaubensüberzeugungen.
Eine davon ist die Forderung nach umfassender Transparenz in allen Bereichen des Lebens. Er sei dagegen, irritierte der Vortragende zunächst und untermauerte seine Behauptung mit praktischen Beispielen, die er gern aus der Ehepraxis anführte. „Die Forderung von Transparenz ist fehlendes Vertrauen“, sagte er und wenn das Vertrauen abnehme, steige die Unsicherheit.
Professor Wilhem Vossenkuhl. Foto: Petra Kurbjuhn
Armin Nassehi war bereits das zweite Mal in Weissach zu Gast. Philosoph Wilhelm Vossenkuhl, Kurator der Reihe, stellte ihn als den bekanntesten und wichtigsten deutschen Soziologen vor, der mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, vor allem für die öffentliche Wirksamkeit der Soziologie. Als Herausgeber des Kursbuches sei er durch seinen schlanken Schreibstil und präzisen Ausdruck bekannt.
Sind unsere Modelle noch die richtigen für die veränderte Zeit, in der durch das Internet alle Informationen jederzeit verfügbar seien, aber das politische System sich noch im Zeitalter der Depeschen befinde, fragte Hotelier Korbinian Kohler.
Hotelier Korbinian Kohler. Foto: Petra Kurbjuhn
Das Problem multipler Krisen sei, dass viele Menschen glauben zu wissen, wie Krisen zu bewältigen sind. Dem entgegen stehe aber, dass Wissen nicht immer helfe. Man wisse viel über Kohlendioxid und Erderwärmung, aber es fehle am Handeln, startete Armin Nassehi.
Und wenn die Menschen selbst Teil des Konflikts seien, wie beim Ukrainekrieg oder wenn das Wissen, wie in der Pandemie, erst generiert werden müsse, dann werde es kompliziert. Man habe lernen müssen, dass Wissenschaftler irren können.
Komplexe Wirklichkeit
Bei all diesen Krisen gebe es das Problem des Fehlschlusses von der Notwendigkeit zur Möglichkeit. Deshalb brauche man Hinweise, wie Probleme in einer komplexen Wirklichkeit zu lösen sind. Dabei sei die Frage, was richtig ist. Haben linke Politiker recht, die die Klimakrise durch Regulierung lösen wollen, oder rechte, die auf Technologie schwören oder eine Mischung oder gar eine dritte Variante?
In der Konfliktdynamik sei die Gesellschaft der moderierende Faktor. Und da gehe es nicht darum, was die Krise ist, sondern was als Krise erlebt wird. Einflussfaktoren sind dabei unter anderem persönliche Unsicherheiten ebenso wie mangelndes Elitevertrauen. Als Beispiel nannte Armin Nassehi, dass in den USA prozentual mehr Republikaner an Covid starben als Demokraten, weil sie Maskenverweigerer waren.
Auch legitime, sich widersprechende Ansprüche, wie Freiheit und Sicherheit in der Pandemie führten zu Zielkonflikten, ebenso wie fehlende Handlungsmuster in Krisen.
Blick in den Saal. Foto: Petra Kurbjuhn
Zudem sei unsere moderne Gesellschaft stark vulnerabel, heißt störanfällig. Wenn der Gaspreis steige, würden sowohl Geschäfts- als auch Familienmodelle in Frage gestellt. „Die Krise macht etwas sichtbar, was ohnehin latent zur Struktur moderner Gesellschaften gehört“, sagte der Soziologe.
Spaltung der veröffentlichten Meinung
Es gehe also um Zielkonflikte und Dilemmata, da die Gesellschaft differenziert sei, die Krisenwahrnehmung in den unterschiedlichen Bereichen variiere, die Debatten polarisiert und gar instrumentalisiert geführt würden. „Wir haben kollektive Herausforderungen, aber die Gesellschaft ist kein Kollektiv, sondern ein komplexes System“, konstatierte der Vortragende, der einem aktuellen Glaubenssatz so widersprach: „Es gibt keine Spaltung der Gesellschaft, sondern eine Spaltung der veröffentlichten Meinung.“ Er forderte zur Stabilisierung der Demokratie Sozialpolitik und sozialstaatliche Maßnahmen.
Auch beim Thema „Handeln“ räumte der Wissenschaftler mit üblichen Forderungen auf, Handeln bezeichnete er als tragische Chiffre, denn trotz positiver Motivation könne es zu negativen Handlungsfolgen kommen. Zudem seien die Menschen in ihrem Tun Typen und starken Mustern unterworfen, diese aber funktionieren nicht in Krisen.
Orte zum Austragen von Perspektivdifferenzen
„Wir müssen Orte finden, um Perspektivdifferenzen auszutragen“, forderte Armin Nassehi und nannte als Beispiel den Ethikrat, in dem unterschiedliche Auffassungen und Restriktionen ausgefochten würden.
„Das Schlimmste sind Akteure, die so tun als wüssten sie, wie es geht“, sagte der Soziologe und sprach von der Notwendigkeit einer translationalen Wissenschaft, die Ergebnisse der Grundlagenforschung in anwendbares Wissen übersetzt, beispielsweisein in der Medizin zu Therapien überführt.
„Wissen allein reicht nicht, um Krisen zu bewältigen“, schloss er seinen spannenden Vortrag. Unser Tun sei von gesellschaftlichen Strukturen bestimmt.
Prof. Wilhelm Vossenkuhl und Prof. Armin Nassehi. Foto: Petra Kurbjuhn
In der lebhaften, von Wilhelm Vossenkuhl moderierten Diskussion wurden praktische Anwendungen diskutiert, etwa die Frage, warum die Impfbereitschaft im Landkreis Miesbach vergleichsweise gering war oder welche anderen Orte als der Ethikrat zu empfehlen seien, um Differenzen auszuhalten.
Auch die differenzierte Kulturpolitik, die teils marktfähig und teils nur über Förderung lebensfähig sei, kam zur Sprache. Armin Nassehi empfahl hier: „Man muss den unmittelbaren Mehrwert von Kultur argumentativ darstellen.“
Zum Weiterlesen: Enthemmte Zeiten im Korbinians Kolleg