Ich lerne Najd im Herbst 2019 bei Hilo Fuchs kennen. Die Künstlerin hatte zum Offenen Atelier eingeladen und mir geschrieben, dass auch Najd da sein werde, ich könne mit ihr über ihren Spurwechsel sprechen. Hilo hatte Najd „entdeckt“, inzwischen war ihre Geschichte durch mehrere Medien gegangen, ich wollte sie aber ganz genau und aus erster Hand erfahren.

Ich darf eine junge Frau kennenlernen, deren Schicksal mich sehr bewegt, eins sicher von vielen Flüchtlingserfahrungen, dennoch berührt mich die Lebensfreude, die Heiterkeit, die Zufriedenheit, all das, was die die junge Syrerin ausstrahlt. Hilo Fuchs macht es möglich, dass wir ungestört miteinander reden können.

Als sie 18 Jahre alt war, starb der Vater. Danach machte sie das Abitur. „Bei uns arbeiten die Frauen nicht, aber ich wollte etwas anderes als nur zuhause sein“, sagt sie, „as much as I can“, fügt sie hinzu. Und studierte englische Literaturwissenschaft in Aleppo. Da sie sich ihr Studium selbst verdienen musste und nebenbei in der Verwaltung der Universität arbeitete, habe es etwas länger gedauert, erklärt sie fast entschuldigend.

Mit 21 lernte sie ihren späteren Mann kennen, den sie mit 24 Jahren heiratete. „Nach den Regeln unserer Gesellschaft mussten wir heiraten“, sagt sie. Ihr Frauenarzt hatte ihr prognostiziert, dass sie keine Kinder bekommen kann, also setzte sie die Pille ab und wurde prompt mit 26 Jahren schwanger. Nach der Geburt der Tochter Nai unterbrach Najd für ein Jahr das Studium und blieb zuhause. Danach nahm sie es wieder auf und erzählt lächelnd: „Nai hat mit mir gelernt.“ Nach Abschluss des Studiums kam Sohn Ali zur Welt. „Das Jahr 2007 war ein Glücksjahr für mich, Ali wurde geboren, ich habe das Studium beendet und eine Wohnung gekauft.“


Ihr Mann ist Architekt und nahm einen Job in den Golfstaaten an. „Er wollte uns nachholen, hat das aber nicht getan und in den zwei Jahren der Trennung haben wir uns auseinandergelebt“, erzählt Najd, die mit den beiden Kindern in Aleppo zurückblieb. Die Ehe wurde 2010 geschieden. Die Kinder hätten unter der Scheidung gelitten und zusätzlich begann 2011 der Bürgerkrieg. „Es wurde gefährlich in Aleppo, überall Bomben“, erzählt Najd und so habe sie entschieden, dass die Kinder in den Sommerferien zu den Großeltern nach Latakia, der syrischen Hafenstadt am Mittelmeer ziehen. Dafür aber musste sie ihren geschiedenen Mann wieder heiraten.
Inzwischen war ihr Entschluss gereift, Syrien zu verlassen. Krieg, Terror, sie sah keine Zukunft für sich und die Kinder. Da sie ihrem Mann nicht mehr vertrauen konnte, wollte sie es allein wagen und die Kinder nachholen. Von Freunden erfuhr sie, dass das möglich ist. Najd plante ihre Flucht akribisch genau. „Das Schwierigste war, aus Aleppo herauszukommen“, sagt sie. Ausgangssperren, Kontrollen durch Regierungstruppen. Zunächst holte sie ihre zwei Kinder nach Aleppo, um sich von ihnen zu verabschieden. Ihre Tochter gab ihr als Andenken einen Schal mit, der sie ihre ganze Flucht lang begleitete.

Mit einem Taxi schaffte sie es, in die Türkei zu kommen. In Istanbul begann ihre Odyssee. Dort vertraute sie sich einem Schleuser an. In einem Boot mit 42 Flüchtlingen fuhren sie über das Mittelmeer. An einem Strand mussten sie aussteigen, der Schleuser warf ihnen zwei Kisten mit Wasser hinterher und sagte, dass sie in Griechenland seien und drei Stunden zu einer Kirche laufen müssten, dort werden sie abgeholt. Sie liefen lange und mussten feststellen, dass die Insel unbewohnt war.

Über eine Handyortung fanden sie heraus, dass sie sich auf türkischem Staatsgebiet befanden. Die Männer saßen am Strand und debattierten, die Frauen sammelten Holz und machten Feuer, denn in der Nacht wurde es kalt und feucht. Am Tag hingegen sengend heiß. „Ich hatte ein bisschen Schokolade, es gab einen Biss und einen Schluck Wasser“, erzählt Najd. Drei Tage lang. „Ich hatte wenig Hoffnung“, erinnert sie sich.

Ein Flüchtling hatte Verwandte in der Türkei. Diese versprachen am Handy zur Polizei zu gehen, aber es kam keine Hilfe. Nach drei Tagen schlug eine Frau vor, die Insel an verschiedenen Stellen anzuzünden. „Wir hatten Angst, aber wir dachten wir sterben so und so“, beschreibt Najd die Situation. Nach zwei Stunden kam ein türkischer Hubschrauber zum Löschen. Später kam die Polizei und transportierte die Flüchtlinge nach Izmir.

Im Polizeipräsidium gelang es Najd einen weiteren Schleuser anzurufen, der ihr half weiterzukommen. „Ich musste alles dalassen und durfte nur mit einer kleinen Tasche als Touristin weiterreisen“, erzählt sie. Aber der Schal der Tochter, um das Handgelenk gewickelt, blieb dabei. Auf dem Schiff traf sie die Frau wieder, die den Vorschlag gemacht hatte, die Insel anzuzünden, „eine sehr starke Frau“. Sie sprachen nur englisch miteinander um nicht als Flüchtlinge aufzufallen.

In Griechenland endlich angekommen, musste Najd erfahren, dass es hier keine Arbeit, also keine Zukunft für sie gab. Und wieder traf sie einen Schleuser. Inzwischen hatte sie einen Pass mit falschem Namen „Maria“ bekommen und musste eine Woche auf einen neuen warten. „Ich habe nur geschlafen“, sagt Najd, aber ihr sei bewusst gewesen, dass sie nun die Hälfte des beschwerlichen Weges geschafft habe.

Wohin also jetzt? Sollte sie nach Paris oder Mailand gehen? In beiden Städten hatte sie Verwandte. Sie erinnerte sich an ein Spiel mit ihrem Bruder, bei dem sie sich nicht einig waren, wo sie einmal hinwollten. Der Bruder sagte damals: Milano, „also habe ich ein Ticket nach Milano gekauft.“

An dieser Stelle werden wir unterbrochen. Zu lange schon habe ich Najd mit Beschlag belegt, viele andere Gäste wollen sie kennenlernen, sagt Hilo Fuchs, und ich verabschiede mich, nicht ohne vorher einen weiteren Treff vereinbart zu haben. Ich darf Najd in ihrer Tegernseer Wohnung besuchen. Sie hat den Tisch gedeckt, es gibt feines Gebäck und Tee. Im Nachbarzimmer höre ich Nai und Ali.

Ich frage Najd wie es ihr geht. „Es war schwer, aber mit den Kindern habe ich es geschafft“, sagt sie. Nai, die die 10. Klasse des Gymnasium Tegernsee besucht, habe sie sehr unterstützt.

Aber der Reihe nach. In Mailand blieb sie nur einen Tag bei Verwandten. Ihr Cousin zeigte ihr die Stadt und führte sie zu einem Wasserspeier am Dom. „Ich habe das Wasser getrunken und gebetet, dass mir Gott helfe“, sagt sie. Najd ist Muslimin, aber eigentlich nicht religiös.

Die nächste Etappe war bei ihrer Schwester in Reggio Emilia in der Poebene. Man hatte sie im Zug an der österreichisch-deutschen Grenze festgenommen, weil sie keinen gültigen Ausweis hatte.

Auch Najd hatte riesige Angst, aber sie wagte es und fuhr nach Deutschland. „Ich habe gesehen, wie sie in der Türkei Flüchtlinge zusammengetrieben haben“, erklärt sie. In Frankfurt angekommen, traf sie auf zwei Frauen und einen Mann von der Polizei. „Ich hatte ein gutes Gefühl, bin hin und habe gesagt, ich bin illegal hier.“ Deren erste Frage war: „Brauchst du einen Arzt?“. „Das war super.“ Erst danach folgten die ganzen Anmeldeformalitäten. „Ich musste mich ausziehen, auch den BH, aber sie haben sich dafür entschuldigt“, erinnert sich Najd.

Am 24.9. 2014 kam Najd in Deutschland an, einen Monat später war sie im Aufnahmelagerlager Zirndorf. „Jetzt fangen die schlechten Erfahrungen an“, konstatiert die Syrerin, „es war wie im Gefängnis.“ Ewig mussten sie auf ein Frühstück warten. Schon früh um 5 Uhr musste man sich anstellen, wenn das Amt um 8 Uhr aufmachte, damit man drankam. Inzwischen war auch ihre Schwester nach Deutschland gekommen und lebte in München.

Najd hatte Glück und wurde im Dezember 2014 nach Tegernsee geschickt. „40 Personen waren in der Turnhalle, davon vier oder fünf Frauen“, stellt sie fest. Syrische Männer seien aggressiv und dominant, aber sie vergewaltigen nicht, sagt sie, in Zirndorf habe sie mit sechs Syrern in einem Zimmer gelebt, ohne jede Gewaltanwendung.

Letztlich aber durfte sie mit einem Mädchen aus Aleppo und vier syrischen Männern eine kleine Wohnung in Tegernsee beziehen. Najd lernte Deutsch und bemühte sich um eine eigene Wohnung. Dieser Nachweis ist erforderlich, dass sie den Antrag stellen kann, die Kinder nach Deutschland zu holen. „Im Rathaus in Tegernsee hat man mir geholfen, nach zwei Monaten habe ich zwei Zimmer bekommen und eine Woche später war die Familie da, auch mein Mann.“

Zu viert lebte die Familie in den zwei Zimmern. „Wir haben nur gestritten, mein Mann wollte alles über andere Männer wissen, war eifersüchtig, es war schwerer als vorher.“ Najd entschied, dass eine zweite Scheidung die einzige Lösung war und fand einen Anwalt, der ihr bei den Formalitäten behilflich war.

Nachdem die Kinder im August 2015 nach Tegernsee gekommen waren, konnten sie im September zum neuen Schuljahr in die Schule gehen. Aber sie konnten kein Wort Deutsch. Ali kam in die 1. Klasse der Grundschule und Nai in die Haushamer Mittelschule. Da sie aber durch ihre Noten überzeugte, durfte sie bald ins Gymnasium.

Najd fand in einer Tegernseer Bäckerei Arbeit als Verkäuferin. Aber nach einigen Monaten sollte der Laden nach Fischbachau umziehen, ohne Auto für Najd nicht machbar. Sie schrieb einen Lebenslauf, den sie an alle Kunden verteilen wollte, um eine neue Anstellung zu finden. Ihr erster Kunde an diesem Tag war Lorenz Höß von der Tegernsee Schifffahrt. Aber sie hatte den Lebenslauf zu Hause liegenlassen. Wie es der Zufall will, hatte er gerade eine Stellenanzeige aufgegeben. Er empfahl ihr, eine Bewerbung zu schreiben. Als sie sagte, dass sie das nicht kann, lud er sie zum Vorstellungsgespräch ein und sie bekam den Job als Kassiererin.

Nach drei Tagen Ausbildung arbeitete sie selbständig. Am Ende der Saison 2018 fragte Lorenz Höß, ob sie den Kapitänsführerschein machen will. „Ich habe gesagt, das ist eine große Verantwortung und Stress. Da hat er geantwortet, du bist von Aleppo allein nach Deutschland gekommen.“ Najd begann im Herbst 2018 mit der Ausbildung. In der ersten Stunde habe ihr der ausbildende Kapitän gesagt: „Du wirst ein guter Kapitän sein.“

Spurwechselkonferenz Najd Boshi
Alle bei der Tegernsee Schifffahrt halfen mit, Lorenz Höß paukte Theorie mit ihr, sie lernte jeden Tag acht Stunden, ob Kompassfahren bei Nebel oder Anlegen, alles immer wieder und im Mai 2019 durfte sie erstmals ein Schiff allein fahren. „Ich bin glücklich“, sagt Najd Boshi am Ende der Saison 2019, als sie noch nicht weiß, dass das Coronavirus den Beginn der Saison 2020 verzögern wird.

Irgendwann will sie auch die Ausbildung für die zwei großen Schiffe machen. Sie habe in den fünf Jahren in Deutschland mehr gelernt als in ihrem ganzen Leben vorher, sagt sie. Wir treffen uns noch zweimal im Winter, als die Schifffahrt ruht. Ich lade sie ein, als Spurwechslerin an der Konferenz im April im Waitzinger Keller – Kulturzentrum Miesbach teilzunehmen und ihren Spurwechsel zu erzählen. Dazu kommt es nicht. Wir müssen die Konferenz wie alle Veranstaltungen absagen.

Wir telefonieren im April 2020 (Kontaktsperre) und ich erfahre, dass jetzt keine Schiffe auf dem Tegernsee fahren. Najd sagt, dass das eine schöne und eine schlechte Seite habe. „Ich kann viel Zeit mit den Kindern verbringen, wir lesen und wir fahren Fahrrad.“ Das müsse sie erst wieder lernen, denn in Syrien sei es nicht üblich, dass Erwachsene Fahrrad fahren. Da sei es gut, dass jetzt in Tegernsee wenig Verkehr sei. Andererseits wecke das auch Erinnerungen an Aleppo. Auch da herrschte Ausgangssperre, die Polizei kontrollierte, die Grenzen waren dicht. „Aber in Deutschland ist es sicherer“, stellt sie fest. Nur die Kinder leiden, weil sie ihre Freunde nicht sehen können.

Spurwechselkonferenz Najd Boshi
Najd ist jetzt in Kurzarbeit. Aber sie ist zufrieden, es reicht zum Leben und es gebe ja keine Gelegenheit, Geld auszugeben, kein Kino, keine Restaurants. Von Najd kann man viel lernen, was Genügsamkeit und Dankbarkeit, aber auch Durchsetzungskraft anbelangt, jammern gilt bei ihr nicht. Wer einmal von Schleppern auf einer unbewohnten Insel ausgesetzt wurde, den kann so schnell nichts erschüttern.

Hilo Fuchs hat Nadj in der Volkshochschule Tegernsee kennengelernt. Nein, nicht weil sie dort einen Kurs besucht. Najd gibt Kurse in Englisch für Kinder und Jugendliche und hat so doch etwas von ihrem alten Leben, was sie im neuen Leben verwenden kann. Und sie hat den Schal von ihrer Tochter.

Monika Ziegler
Publiziert Dezember 2020