Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich
Dr. Wolfgang Foit, Nora Hespers und Werner Hartl (v.l.). Foto: Hannah Miska
Lesung in Schliersee
Anlässlich des Gedenkens an den 20. Juli 1944 veranstaltete der Studienkreis Deutscher Widerstand 1933-1945 gemeinsam mit dem Katholischen Bildungswerk Miesbach, dem IG Metall Jugendbildungswerk Schliersee sowie der Bücheroase Schliersee eine Lesung mit der Journalistin und Podcasterin Nora Hespers, die ein Buch über ihren im Widerstand aktiven und von den Nationalsozialisten zum Tode verurteilten Großvater geschrieben hat.
Ein heißer Sommertag in Schliersee, die meisten Einheimischen oder Urlauber sind entweder noch zum Abkühlen im See oder trinken bereits das erste Bier im Festzelt des Trachtenvereins. Und dennoch haben sich einige Interessierte aufgemacht, um Nora Hespers und die Geschichte ihres Großvaters zu hören. Wolfgang Foit, Geschäftsführer des Katholischen Bildungswerks, der bereits seit sieben Jahren eine Lesereihe zum Thema Erinnerungsarbeit veranstaltet, bedankt sich ausdrücklich dafür.
Die Lesung findet im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Studienkreises Deutscher Widerstand statt und Werner Hartl, Vorstandsmitglied des Studienkreises, erinnert daran, dass es im nationalsozialistischen Deutschland über den militärischen Umsturzversuch am 20. Juli 1944 hinaus sehr viel mehr Widerstand gegeben hat – von Menschen, die noch lange nach Ende des Zweiten Weltkriegs als Vaterlandsverräter beschimpft worden, geschweige denn geehrt worden sind. Noch heute sind diese stillen Helden zum Teil völlig unbekannt – und genau deshalb habe er heute Nora Hespers eingeladen.
Foto: Hannah Miska
Der Großvater
Wer also war Theo Hespers? 1903 als zweites von sechs Kindern in eine bürgerlich-katholische Familie in Mönchengladbach hineingeboren, organisiert Theo sich als Jugendlicher in mehreren Jugendbünden, die für Pazifismus, soziale Gerechtigkeit und ein Leben im Einklang mit der Natur kämpfen und wächst zu einem politischen Aktivisten heran. Nach der Ausbildung an einer Höheren Fachschule für Textilindustrie geht er mit einem Freund auf „Weltreise“, die ihn über die Schweiz, Italien und Südfrankreich bis nach Spanien führt. 1927 gelingt es ihm, Teil einer kommunistischen Russland-Delegation zu werden und sich in einer achtwöchigen Reise durch die Sowjetunion anzuschauen, wie der Kommunismus in der Praxis aussieht.
In Deutschland gewinnt inzwischen die NSDAP zunehmend an Macht und Zulauf. Hespers erkennt früh, welche Gefahr von den Nationalsozialisten ausgeht, beginnt, sich politisch zu engagieren und kandidiert für die „Einheitsliste der Arbeiter und Bauern“ für die Reichstagswahl im März 1933. Bereits Anfang April steht die Gestapo vor der Tür, Theo Hespers flieht über die niederländische Grenze, seine Frau kommt mit dem zweijährigen Sohn nach.
Hespers kämpft nun aus dem Exil weiter gegen die Nazis – gemeinsam mit Gleichgesinnten gibt er aufklärerische Schriften heraus, die nach Deutschland geschmuggelt werden, und offenbar arbeitet er später auch für den britischen Geheimdienst. Als die Deutschen im Mai 1940 die Niederlande überfallen, muß Hespers untertauchen, knapp zwei Jahre später wird er jedoch verhaftet und nach Deutschland verbracht, wo er inhaftiert, gefoltert, schließlich zum Tode verurteilt und im September 1943 in Berlin-Plötzensee erhängt wird.
Die Enkelin
Wenn man nun jedoch erwartet, dass Nora Hespers die Geschichte ihres Großvaters als stringente Biografie erzählt, hat man sich getäuscht. Sie erzählt stattdessen eine Familiengeschichte, die viel komplexer ist und sowohl ihren Vater (also Theo Hespers‘ Sohn) als auch sie selbst, also die Enkelin, stark mit einbezieht. Schon früh wächst sie mit dem Wissen um ihren Großvater auf, weiß um seinen gewaltsamen Tod.
Noras Vater, der Exil und Flucht miterlebt hat, den Vater als Zwölfjähriger noch einmal im Gefängnis besuchen durfte, ehe er aufgehängt wurde, ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Mit Pathos und Theatralik erzählt er die Geschichten aus einer schwierigen Kindheit, er erzählt sie als Abenteuergeschichten. Als Kind kann Nora die Geschichten nicht einordnen und als Pubertierende interessiert sie sich längst nicht mehr dafür. Nie setzt sie sich aktiv mit dem Leben ihres Großvaters auseinander.
Und so beginnt die Autorin die Lesung mit einem Prolog, in dem die Zuhörer erfahren, wie Nora beim Suchen für ein Diplomarbeit-Thema gelangweilt ihren Namen in Wikipedia eintippt und dort überraschenderweise etliche Informationen über ihren Großvater findet – vor allem aber Briefe, die er aus der Gestapo-Haft an seine Familie geschrieben hat. Die Briefe öffnen die Tränenschleusen bei der Enkelin.
Die Journalistin, Podcasterin und Social-Media-Managerin Nora Hespers. Foto: Hannah Miska
Dennoch soll es weitere sechs Jahre dauern, bis Nora beschließt, die Geschichte ihres Großvaters zu recherchieren und aufzuschreiben. Ein Zufall kommt zu Hilfe: Matthias von Hellfeld, Historiker und Kollege im Deutschlandfunk, eröffnet Nora eines Tages, dass er abends eine Sendung über Erinnerungskultur plane. Und darin – er hätte über Theo Hespers promoviert – würde er auch über Hespers sprechen wollen. Ob sie nicht Gast in der Sendung sein wolle – Hespers sei doch ihr Großvater?
Der Tritt vors Schienbein
Die Sendung ist eine Art Initialzündung. Zum ersten Mal versteht Nora, dass ihr Großvater nicht nur vom Vater zum Helden erhoben wird, sondern „nach objektiven Maßstäben ein Mensch (ist), der Großes geleistet hat“. Sie erkennt: „Wir, die wir da sitzen, können heute frei sprechen und unbedroht unseren Beruf ausüben, weil es Menschen wie meinen Großvater gab, die dafür gekämpft haben.“ Und es ist der Tritt vors Schienbein, den es gebraucht hat.
Um das Buch zu schreiben, muss Nora zunächst wieder Kontakt mit ihrem Vater aufnehmen, mit dem sie vor fünfzehn Jahren – nachdem er die Familie verlassen hat – die Verbindung gekappt hat. Die Autorin beschreibt im Folgenden, wie sie anfängt, die eigentümlichen Eigenschaften ihres Vaters, mit denen sie immer haderte, zu verstehen und einzuordnen. Sie ist hier einem Familientrauma auf der Spur, gewachsen auf dem Boden von Flucht, Angst, Verfolgung und dem gewaltsamen Verlust des Vaters.
Marten Müller mit dem Büchertisch der Bücheroase Schliersee. Foto: Hannah Miska
Was wir aus der Geschichte lernen sollten
Das, was das Buch aber insbesondere auszeichnet, ist die Art und Weise, wie Nora Hespers die Verbindung zur Gegenwart zieht. Es ist ein wahrhaftes Verdienst der Autorin, sehr präzise den Aufstieg des Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus in Deutschland nachzuzeichnen und die Geschehnisse in den Kontext mit denen in der Weimarer Republik und dem NS-Staat zu setzen. Angefangen bei den Pegida-Demonstrationen gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ – Hespers ruft uns den mehrfach verurteilten Pegida-Vorsitzenden Lutz Bachmann in Erinnerung, der sich durch rassistische, homophobe und menschenverachtende Sprüche in den sozialen Medien auszeichnet – berichtet sie über den Aufstieg der AfD, die Radikalisierung der Sprache, die Tabubrüche durch Rechtspopulisten, sie erinnert an die Demos mit mitgeführten Galgen, an denen Politikernamen baumeln, sie erinnert an den Mordanschlag an Henriette Reker, an die NSU-Morde, an das Attentat auf die Synagoge in Halle, an die Morde von Hanau, an den Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke, sie erzählt von dem gezielten und unfassbaren Hass auf Flüchtlinge, Journalisten, Politiker, und sie fühlt bei alledem: Die Vergangenheit klopft an.
Nora Hespers bedient sich dabei einer einfach zu verstehenden und teilweise „hippen“ Sprache, um insbesondere auch junge Menschen zu erreichen. Aber auch die nicht mehr ganz so junge Zuhörerschaft an diesem Samstagabend erreicht sie: Es gibt lebhafte Nachfragen, Diskussionen und einen langen Applaus für die Autorin.
Das akribisch recherchierte Buch ist ein Plädoyer für die Demokratie und ein Appell an uns alle, uns einzusetzen für diese Demokratie und die Menschenrechte. Ein Buch, dem man eine große Nachfrage und Verbreitung wünscht. Die Autorin liest auf Nachfrage auch in Schulen.
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