Ein Ort kristallisiert das kollektive Gedächtnis
Prof. Dr. Winfried Nerdinger im Vortrag in der philosophischen Reihe des Korbinians Kolleg im Hotel Bachmair Weißach. Foto: IW
Vortrag am Tegernsee
Das neue Vortragssemester des „Korbinans Kolleg – zu Fragen der Zeit“ beschäftigt sich mit der Rolle der Erinnerung. „Was bedeutet Erinnerung für uns Deutsche?“ war die Fragestellung, die Prof. Dr. Winfried Nerdinger am Freitag aufwarf. Er leitete bis April das NS-Dokumentationszentrum in München.
Korbinian Kohler, Initiator der Reihe, und Wilhelm Vossenkuhl, Professor für Philosophie an der LMU und akademischer Kurator, freuten sich. Zahlreiche Zuhörer waren am Freitag zu diesem „schwierigen Thema“ gekommen. Dass das Interesse auch weit über das Hören des Vortrags hinausging, bewies die rege und emotionale Diskussion am Ende des Abends. Die Frage „Wer war Täter, wer war Opfer?“ beschäftigt die Menschen noch Generationen später bis in die heutigen Familien hinein.
Zentraler Lern- und Erinnerungsort am Täterort
„Wissen ist entscheidend dafür, dass man sich erinnern kann“, bemerkte Winfried Nerdinger zu Beginn seines Vortrages. Der promovierte Architekturhistoriker und emeritierte Professor der LMU war Gründungsdirektor des 2015 in München eröffneten NS-Dokumentationszentrums. Dessen Gestaltung lag konzeptionell in seinen Händen, die Leitung bis Ende April dieses Jahres. Was diesen Ort so besonders macht? Er verknüpft Geschichte und Gegenwart unmittelbar. Es ginge dabei weder um eine „Erlebnismuseum-Inszenierung“, noch darum, Geschichte unterhaltsam zu vermitteln. Das NS-Dokumentationszentrum sei ein „Lern- und Erinnerungsort an einem Täterort“, so Nerdinger. Reine Fakten, Wissen und der Ort, der für sich spricht.
Der Ort wird zum kollektiven Gedächtnis
Anhand der Tafeln und des Blickes aus den Fenstern des Gebäudes sieht man den Ursprungsort der Verbrechen der Nationalsozialisten. Exakt dort, am Königsplatz in München, steht der sogenannte Führerbau. Heute ist die Musikhochschule darin untergebracht. Dort standen die beiden Tempel, die dem „Novemberkult“ dienten, dem höchsten Kult der Nazis. Einer davon ist heute von Bäumen und Gestrüpp überwuchert, steht gleichsam für das Vergessen und unter-den-Tisch-kehren, das über viele Jahrzehnte betrieben wurde. Vom anderen Tempel sieht man das freigelegte Fundament als „stummen Zeugen“. Beide stehen sinnbildlich für 70 Jahre „Verdrängen versus Konfrontation“.
NS-Dokumentationszentrum München (rechts) mit Fassadenanteil des ehemaligen Führerbau, heute Musikhochschule. Foto: Jens Weber
„Hier ist es gewesen“, ist die Kernaussage, der Verweis auf den Ort. Hier begann der Weg in die Radikalisierung, den Krieg, die Vernichtung. „Damit übernimmt der Ort die Zeitzeugenschaft“, erläuterte der Referent. Bis in die 80er Jahre habe es gedauert, bis man sich in München der Verantwortung stellte. Zuvor wurden zwar die Opfer des Nationalsozialismus betrauert: Die gesamte deutsche Nation sah sich als Opfer. „Als wäre es voneinander zu trennen gewesen – hier die Deutschen und dort die Nationalsozialisten, die plötzlich über das Land kamen und nach 1945 wieder verschwanden“, versucht Winfried Nerdinger das Unverständliche des jahrelangen Versäumnis einer ernsthaften Aufarbeitung der Geschichte zu verstehen. Es bleibt unverständlich. In München, an diesem Ort, hätten über 7.000 Menschen die Partei „am Laufen gehalten“. Erst mit dem späten Blick auf die Täter sei auch der Blick auf die Taten gekommen.
Licht in die dunkle Vergangenheit bringen
Das Gebäude des NS-Dokumentationszentrums ist ein weißer Würfel, der sich bewusst von der Szenerie der umliegenden Gebäude abhebt. Er soll helles Licht in die dunkle Vergangenheit bringen und jeden Winkel ausleuchten. In 33 Themenschwerpunkten wird der Nationalsozialismus und seine unfassbaren Verbrechen dokumentiert. Von dessen Aufkeimen bis in die heutige Gegenwart hinein, in der nationalsozialistisches Gedankengut wiederbelebt wird bis hin zur Erniedrigung einzelner Bevölkerungsgruppen. Zwei Bildschirme spielen täglich aktuelle Meldungen über antisemitische oder fremdenfeindliche Übergriffe innerhalb Deutschlands ein.
NS Dokumentationszentrum München mahnt an Verantwortung
München stellt sich in dieser kollektiven Erinnerung, als Umgang mit der Rolle als „Hauptstadt der Bewegung“. „Aufarbeitung muss auf hellem Bewusstsein basieren“, zitierte Winfried Nerdinger den Philosoph Theodor W. Adorno. Noch immer gibt es vieles aufzuarbeiten. So sei beispielsweise die Rolle des Widerstandes in beiden ehemaligen Ländern Deutschlands einseitig betrieben worden. Während die Bundesrepublik nur bürgerliche und demokratische Widerständler ehrte und die erheblich größere Masse der Kommunisten komplett unter den Tisch kehrte, seien in der ehemaligen DDR ausschließlich die ermordeten Kommunisten verklärt worden. „Auschwitz wurde für die Kommunisten gebaut“, erinnerte Nerdinger.
Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl, akademischer Kurator der Reihe, und Prof. Dr. Winfried Nerdinger (v.l.). Foto: IW
Wichtig sei ihm vor allem, dass das NS-Dokumentationszentrum und seine Ausstellungen nicht im Jahr 1945 abschließen, sondern sich der Verantwortung der Deutschen bewusst ist, eine Wiederholung der Ereignisse zu verhindern. Daher sei der Blick bis in die Gegenwart nötig.