Idyll und Verbrechen – Besuch eines Erinnerungsortes
Die Dokumentation Obersalzberg öffnete 1999 ihre Türen. Foto: IW
Aufarbeitung der Geschichte
Die wechselvolle Geschichte des Obersalzberges in Berchtesgaden kann man auf einer geführten Tour erleben, in Kombination mit einem Besuch des Dokumentationszentrums Obersalzberg. Eine Gruppe der Tegernseer Heimatführer begab sich auf Spurensuche, um daraus über den Umgang mit der Geschichte zu lernen.
Trügerisch war auch die Idylle am Tegernsee in den Jahren des Nationalsozialismus – und ist noch wenig aufgearbeitet. Ein paar der Tegernseer Heimatführerinnen und Heimatführer haben sich nun des Themas angenommen, um auch in unserer Region das Wissen über diese Zeit den Gästen und Einheimischen vor Ort zugänglich zu machen. Dazu sammeln sie derzeit Informationen und besuchen Orte, die sich ebenfalls mit der Geschichte auseinandersetzen.
Aus der Geschichte lernen – Tegernseer Heimatführer und Gästeführerin Marianne Lenz auf dem Obersalzberg. Foto: IW
Der Landkreis Miesbach wie auch das Berchtesgadener Land sind idyllische Bergregionen, die bereits seit der Gründung des Königreiches Bayern und den Wittelsbachern vom Tourismus geprägt sind. Was passiert mit einem Ort wie dem Obersalzberg, der sich von einem ursprünglichen Bergbauerndorf zum Treffpunkt eines elitären Publikums aus Adel, Kunst, Kultur und Wissenschaft zur „Sommerfrische“ entwickelt? Und dann zum hermetisch abgeriegelten NS-Sperrgebiet wird, Bombardements und Zerstörung erlebt, über lange Zeit ein US-Erholungsgebiet ist und heute eines der schönsten Wandergebiete und Touristen-Hotspots in den bayrischen Alpen ist? Sind die Verbrechen des Nationalsozialismus, die Fußspuren seiner führenden Köpfe in die Landschaft eingeschrieben? Und was lässt sich daraus für die hiesige Region ableiten?
Geführte Tour über den Obersalzberg
Marianne Lenz arbeitet seit 1982 als Touristenführerin, damals für die U.S. Army, die den Obersalzberg 50 Jahre lang als „Recruting Area“ führte. Nachdem sich über fünf Millionen US-Soldaten am Obersalzberg erholt und seine Geschichte erfahren hatten, gingen das Gelände und seine Gebäude 1995 an den Freistaat. Vier Jahre später, am 20. Oktober 1999, eröffnete die Dokumentation Obersalzberg – als Erinnerungsort. An diesem regnerischen Montag führt Marianne Lenz die kleine Gruppe vom Tegernsee über den Obersalzberg. Sie erzählt und beantwortet Fragen, zeigt Zusammenhänge anhand von Bildern und anhand der Orte, die heute anders aussehen, teils andere Namen tragen. Erzählt von den Menschen, die den Ort und seine Idylle missbrauchten und Millionen von Toten auf dem Gewissen haben.
Zwischen 1933 und 1945 war der Obersalzberg ein nationalsozialistisches Machtzentrum: Über ein Viertel seiner Amtszeit verbrachte Adolf Hitler hier. In seinem Berghof inszenierte er seinen Führerkult und sich selbst als sympathischen „Volkskanzler“. Er empfing internationale Gäste von Rang und Namen und entschied in einem Kreis enger Vertrauter über Verfolgung, Krieg und Völkermord. In den letzten Kriegsjahren errichten tausende Zwangsarbeiter unterschiedlicher Nationalitäten unterhalb der idyllischen Häuser der NS-Größen und der trutzigen Zweckgebäude ein über sechs Kilometer langes Bunkersystem aus Tunneln und Kavernen: ein gigantisches unterirdisches Regierungszentrum.
Im Bunkersystem auf dem Obersalzberg: ehemaliges Büro der Partei-Kanzlei. Foto: IW
Idyllisch ist nichts am Obersalzberg an diesem Regentag; es würde sich falsch anfühlen, so absurd wie der Windbeutelbaron nur ein paar Kilometer weiter. Und doch ist alles richtig so, wie es ist. Der Ort hat eine wechselhafte Geschichte nicht nur vor, mit und nach dem Nationalsozialismus hinter sich, sondern auch eine bewegte Geschichte der Aufarbeitung. Wie etwa soll man verstehen, dass in den 1970er Jahren Klick-Fernseher Mode waren, die den Touristen das Idyll Berchtesgadens inklusive des malerischen Führer-Berghofs zeigten – dessen Ruinen bereits 1952 abgerissen worden waren? Über Jahrzehnte wurde die Geschichte des Obersalzberges zugleich verdrängt und vermarktet – weil er eben kein normaler Touristenort ist.
Erinnern oder Verschweigen?
Hier hat sich, trotz Sprengungen und Zurückeroberung durch die Natur dieser Teil der deutschen Geschichte zugetragen. Hier kommt man dieser Geschichte besonders nahe. Schaut hinter das Idyll auf die entsetzlichen Verbrechen an der Menschheit, auf die Bürokratie der Vernichtung, auf Listen mit Namen, auf Fotografien, Einzelschicksale. Sollte man diese vermeintlich urlaubsuntauglichen Aspekte der Region weiter unter den Tisch fallen lassen, indem man sie verschweigt? – lautet eine der zentralen Fragen im Dokumentationszentrum. Die klare Antwort darauf: Nein!
Dokumentation Obersalzberg – die Dauerausstellung „Idylle und Verbrechen“. Foto: IW
Auch in unserer Region haben sich NS-Verbrechen zugetragen, wurden Juden zuerst ausgegrenzt, dann deportiert. Haben führende Köpfe der Nationalsozialisten gekurt und sich erholt, idyllisch mit ihrer Familie gelebt und zugleich Pläne zur Vernichtung von Millionen Menschen geschmiedet. Auch hier gibt es Orte, an denen man dieser Geschichte nahekommt, nicht an ihr vorbeikommt. Am Tegernsee wurde mit der „Langen Nacht der Messer“ durch den Führer persönlich das Ende des Rechtsstaates eingeläutet – der Ort ist heute eine Baustelle. Hier hat Hitlers Architekt Alois Degano das Haus „Jungbrunnen“ für Adriaan Stoop, den Begründer des Jodschwefelbades, gebaut – heute längst abgerissen. Aber damit vergessen? Einer der verbliebenen Orte ist das Hotel Blyb. in Gmund. In dem ehemaligen Haus Fychtenfeld Heinrich Himmlers wird seit der Eröffnung vor einem Jahr eine aktive Aufarbeitung der Geschichte betrieben.
Was lässt sich vom Obersalzberg lernen?
Dort wie hier ist die wundervolle Landschaft eng mit der NS-Herrschaft verbunden. Orte und Landschaften tragen keine Schuld, so das Fazit in der Dokumentation Obersalzberg. Der Journalist Reinjan Mulder, der das Buch „Schwefelwasser“ über die Vergangenheit Bad Wiessees und des Jodschwefelbades schrieb, benutzte 2020 das philosophische Denkkonstrukt der „schuldigen Landschaft“ und beklagte die mangelnde Aufarbeitung der Zeit im Tegernseer Tal. Inzwischen kommt einiges in Gang.
Ort und Landschaft bleiben verbunden mit der Zeit des Nationalsozialismus. Sie sind an sich weder Täter noch Opfer, sind nicht angeklagt und klagen nicht an. Wenn man sich damit befasst, öffnen Orte wie der Obersalzberg, aber auch der Tegernsee, einen Zugang zur Geschichte und konfrontieren mit der völkischen Rassenideologie und ihren verheerenden Folgen. Es ist an jedem Einzelnen, hinter das Idyll zu blicken. Die Tegernseer Heimatführer möchten einen Beitrag dazu leisten, diese Blickachse zu öffnen.
Weiterlesen: Die Tegernseer Heimatführer in der 41. Ausgabe der KulturBegegnungen