Vereint in der Passion
Erler Herz – eine ganze Gemeinde lebt eine Leidenschaft. Foto: Peter Kitzbichler, Passionsspiele Erl 2019
Passionsspiel im Tirol
Ein kleiner Ort im Tirol wird alle sechs Jahre zum Passionsspielort: Erl. Mit den 550 Mitwirkenden ist ein Drittel der Dorfbevölkerung beteiligt – ein Jahr leidenschaftlichen „Hineinlebens“ in die Rollen geht voraus. Der Höhepunkt war die Premiere vor 1.500 Zuschauern am Sonntag.
Über 400 Jahre gelebte Tradition – so lange gibt es die Passionsspiele in Erl. Alle sechs Jahre ist Passionsspiel-Zeit, das bedeutet: Nichts läuft in Erl wie in anderen, beschaulichen Gemeinden – ein emsiges Treiben beginnt. Die Mitwirkenden fühlen, denken, spielen und leben sich intensiv in ihre Rollen ein. Über Monate hinweg wird geprobt, musiziert und gesungen, während die Spannung wächst – aber auch die Sicherheit. Regisseur Markus Plattner fordert die begeisterten Laiendarsteller – mit einer noch „kernigeren und schärferen“ Inszenierung der Jubiläumspassion von 2013, die mit dem zeitgemäßen Text aus der Feder von Felix Mitterer bereits eine radikale Änderung darstellte. Gleichsam mit ihren immer länger werdenden Haaren wuchsen die Menschen jeden Alters in ihre Rollen.
Monatelanges Proben mit Regisseur Markus Plattner – die Kinder stehen im Fokus des Spiels, sie sollen hineinwachsen dürfen in die Passion. Foto: Mario Wimmer
Die Passionsmusik wurde eigens von Wolfram Wagner für Chor und Orchester komponiert. Der neue musikalische Leiter Drummond Walker probte bereits ab Oktober intensiv mit dem stimmgewaltigen Chor, während die Laienschauspieler über Monate parallel ihre Rollen einstudierten, davon die neun Schlüsselrollen in doppelter Besetzung. Das Los der bis auf die letzten Plätze ausverkauften Premiere fiel auf Barbara Maiers Gruppe um den charismatischen Jesus-Darsteller Erwin Kronthaler. Und dann – endlich die Premiere.
Menschen bilden symbolischen Palmzweig
Der Saal ist voll – 1.500 Besucher sitzen erwartungsvoll in den Reihen. Sie erleben eine bewegende Inszenierung, dürfen sich als Zuschauer und zugleich als Teil des Ganzen fühlen. Eindrucksvoll war bereits der lange Strom der Menschen, der hin zum Festspielhaus pilgerte. Noch eindrucksvoller sind die auf die Bühne strömenden Laienschauspieler – Kinder, Erwachsene, sogar Mütter mit Kleinkindern – niemand fehlt beim Einzug Jesu in Jerusalem auf seinem Esel. Palmzweige in den Händen, begrüßen ihn die Menschen, die auch symbolisch mit ihren Körpern einen Palmzweig bilden.
Beim letzten Abendmahl. Foto: Peter Kitzbichler Passionsspiele Erl 2019
Das effektvoll schlichte Bühnenbild bietet größtmöglichen Handlungsspielraum. Die Bewegungen der unzähligen Menschen mit ihren in warmen Tönen gehaltenen Gewändern werden zum Farbrausch für die Sinne. Die Musiker, zahlreichen Sänger und eindrucksvollen Orgelklänge tragen das Spiel meisterlich Szene für Szene, in denen sich die letzten Lebensstationen von Jesus, Gottes Sohn, entfalten.
Frauen stärker ins Zentrum gerückt
Deutlich in Mitterers gegenwärtigen Texten klingt die Stärkung der Frauen, so wie einst Jesu die Frauen schätzte und stärkte, bevor sie in der patriarchisch geprägten Gesellschaft nach hinten angestellt wurden. Eindrucksvoll auch das letzte Abendmahl im Garten Gethsemane: als Einladung an alle Menschen, an der Kommunion teilzuhaben. Das schlichte und moderne Bühnenbild lässt die Passion in einem zeitlosen Rahmen erscheinen. Die beiden symbolischen Ringe, zugleich Heiligenschein und Abendmahltafel, vereinen alle Menschen, versammeln sie um das liebende Licht Jesu.
Moderne Lichtinszenierung
Modern sind auch die Zitate, die Lichtdesigner Ralf Wapler setzt, beispielsweise mit den grünen Lichtlinien, die über die Wände des Tempels zickzacken, aus dem Jesus die Händler vertreibt – sie erinnern an den Puls internationaler Börsen. Die Intensität der Licht- und Bildsprache hebt die Charaktere hervor und zieht die Zuschauer gleichsam in die Tiefen der Bühne hinein.
Jesus (Erwin Kronthaler, rechts) lädt Judas (Gerhard Kneringer) zum Abendmahl. Foto: Peter Kitzbichler, Passionsspiele Erl 2019
Im Mittelpunkt steht der Mensch Jesus – in seiner gütigen Liebe, aber auch seinem Ringen als Spielball zwischen den Mächtigen. Die Zuschauer erleben einen überzeugenden Hauptdarsteller Erwin Kronthaler, verfolgen gebannt den Wechsel zwischen seinen Gefühlen und den Anforderungen der Außenwelt. Sehr menschlich und nahbar auch die Personen, die Jesus nahe stehen, etwa die verzweifelte Mutter Maria (Barbara Maier), die Apostelin Maria Magdalena (Nicola Daxer), der zerrissene Judas (Gerhard Kneringer). Mitterers Texte und Plattners Inszenierung entlasten den Verräter, unterlassen Schuldzuweisungen und setzen dem Antisemitismus ein Ende.
Atemlose Stille beim Moment der Kreuzigung Jesu (Florian Harlander). Foto: Peter Kitzbichler Passionsspiele Erl 2019
Nah und unmittelbar ist auch die Kreuzigungsszene. Nicht irgendwo weit hinten auf dem Berge Golgatha, sondern ganz vorne beim Publikum findet das Leiden Christi am Kreuz statt. Wer in den Zuschauerreihen sitzt, wird Zeuge: hier geschieht etwas Großes, das eine kleine Gemeinde von Menschen eint – in einer großen Leidenschaft. „Nur wer selber von etwas begeistert ist, kann auch andere begeistern!“ ist das selbst gewählte diesjährige Motto der Passionsspielgemeinde. Und die Welle der Begeisterung schwingt hinüber zum Publikum, mündet in einen langanhaltenden, wohlverdienten Applaus.