Wild, natürlich, unentdeckt – die Gipfel des Balkans
Highlight auf dem „Peaks of the Balkans Trail“: die kleine Kirche von Theth im Theti Nationalpark. Foto: Ines Wagner
Reisekolumne
Nahezu unberührt und über viele Jahrzehnte eine verbotene Bergwelt: Die wilden Täler und schroffen Gipfel, leuchtblauen Quelltöpfe, tosenden Wasserfälle, Geröllfelder, Kiefernwälder und Wildblumenwiesen sind ein Naturparadies im Dreiländer-Grenzgebiet auf dem Balkan. Der Fernwanderweg „Peaks of the Balkans“ führt entlang alter Hirtenwege mitten hindurch. Man kann ihn allein gehen – oder mit einer geführten Tour. Er ist in jedem Fall ein lohnenswertes Abenteuer.
Ganz am südlichen Ende der Alpen liegen die schroffen Berggipfel und malerischen Täler des Prokletije Gebirges, auf Albanisch Bjeshkët e Nemuna. Der Fernwanderweg „Gipfel des Balkans“ führt durch ihre großartige Kulisse – entlang der einst verbotenen Bergwelt der Dreiländer-Grenzregion zwischen Albanien, Montenegro und Kosovo. Die unwirtliche Gegend war lange ein Synonym für Banditen, Blutfehden, Lawinen und die unterschiedlichsten Unglücksfälle, um die sich über Jahrhunderte hinweg Sagen und Legenden rankten. Kein Wunder, dass das Gebirge im Volksmund auch „Verfluchte Berge“ heißt. Der Teil der Albanischen Alpen ist obendrein gesprenkelt mit tausenden Bunkern aus der 40-jährigen Ära des paranoiden Diktators Enver Hoxha, der sein Land komplett von der Außenwelt abschottete. Die Route verbindet die Kulturen und Traditionen der drei Länder. Sie wurde als internationale Kooperation begründet, um die Region und den Frieden in der einstigen Konfliktregion zu fördern.
Bergführer Nedih Limani kennt die Gipfel des Balkans und auch die Sharr Mountains wie seine Westentasche. Foto: Ines Wagner
Heute ist der Fernwanderweg „Gipfel des Balkans“ zwar kein absoluter Geheimtipp mehr, aber dennoch nicht überlaufen. Er ist mein diesjähriges Sommerabenteuer, in das ich mich mit einer Gruppe aus zehn weiteren Wanderlustigen aus der ganzen Welt stürze. Geführt werden wir von zwei lokalen Bergführern, Nedih Limani und Nik Cupi. Übernachtet wird in Berghütten und kleinen Gästehäusern.
Peaks of the Balkans – die 8-Tage-Tour
Den ganzen „Peaks of the Balkans“ zu erwandern dauert zehn bis zwölf Tage. Wir nehmen mit der 8-tägigen Tour die kürzere Variante, in der einer Teilstrecke im Kosovo ausgespart wird. Einige Zwischenstrecken werden mit Fahrzeugen zurückgelegt. Dass unser Hauptgepäck von Jeeps und teils Pferden von Station zu Station transportiert wird, ermöglicht es, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren: Proviant und täglich drei bis vier Liter Wasser zu tragen. Es ist heiß in dieser Jahreszeit.
Wildblumenteppiche wechseln sich ab mit Geröllfeldern. Foto: Ines Wagner
Das Abenteuer beginnt und endet in der nordalbanischen Stadt Shkodra, von wo aus wir uns mit dem Auto durch Karl Mays Drin Schluchten und mit einer Fähre durch die fjordartige Landschaft des Komani Sees den Albanischen Alpen nähern. Vom Dorf Fierze aus geht es zu Fuß weiter hinein in den Valbona Nationalpark und am nächsten Tag von Cerem aus über den Vranica Pass über die Grenze hinweg ins ehemalige Jugoslawien. Über unfassbar schöne Wildblumenteppiche und durch lichte Nadelwälder führt der Weg vorbei an Kühen, sodass wir uns beinahe daheim in den Voralpen wähnen, bis hin zum kargen Gletschertal von Doberdol auf 1.750 Meter Höhe.
Gastfreundliche Hirtenfamilien
Mächtige Kalksteinberge, die in von Wind gebeutelte Geröllfelder zerfallen, stehen imposant in der Landschaft. Mittendrin, wie eingestreut, zahlreiche Hütten aus Stein. Hier leben gastfreundliche Hirtenfamilien mit ihren Pferden, Kühen und Schafen, die Wandernden ein einfaches Lager und regionales Essen bieten. Weit entfernt von jeglicher Lichtverschmutzung ist der Sternenhimmel wunderbar und nur der Schein eines Lagerfeuers erhellt die Nacht.
Übernachten in den einfachen Hütten von Doberdol. Foto: Ines Wagner
Am nächsten Morgen starten wir zum kahlen Gipfel des Trekufiri auf 2.366 Meter. Dort berühren sich die Grenzen von Albanien, Montenegro und Kosovo. In Montenegro wird die Landschaft märchenhaft: Üppige Wildblumenwiesen, moosbewachsene Felsen, dichte Kiefernwälder und ein erfrischendes Bad im kristallklaren Hrid See auf über 1.900 Metern, bevor wir das Nachtlager im immergrünen Tal von Babino Polje in der Sommerhüttensiedlung „Katun“ des Nationalparks aufschlagen und fürstlich bewirtet werden.
Blick von Vusanje durch das Ropojana-Tal ins Herz der Abanischen Alpen. Foto: Ines Wagner
Die nächste Etappe führt durch das Grbaja Tal in Montenegro, einem der dramatischen Höhepunkte des Prokletije. Von dort aus geht es durch einen prachtvollen Buchenwald in ein Hochtal und über die Doppelgipfel von Popadija und Taljanka. Vom wunderschönen Gästehaus von Vusanje, dem nächsten Stopp, ist es nur eine kleine Wanderung zum nahegelegenen Wasserfall. Am nächsten Tag geht es weiter ins Herz der Albanischen Alpen, vorbei an verwitterten Grenzsteinen, verlassenen Militärposten und ehemaligen Bunkern. Die Aussicht auf das Matterhorn Albaniens, den Arapi, der mit 2.217 Metern aus dem Karst des Theti-Nationalparks schießt, ist ehrfurchteinflößend. Imposant der Blick von oben auf die umliegenden Gipfel und Täler.
Bunker aus der Ära des Diktators Enver Hoxha begegnen uns überall im Gebirge. Foto: Ines Wagner
Theti Nationalpark und Theth
Nach dem Überschreiten des Peja-Passes und der Geröllfelderlandschaft tut sich das lieblich-grüne Tal des Theti-Nationalparks auf. Dort liegt das idyllische Dörfchen Theth, das erahnen lässt, wie schmal der Grat zwischen unberührter Natur und deren touristischer Erschließung ist. Die pittoreske katholische Dorfkirche und das alte Turmhaus, das früher den von der Blutfehde Betroffenen Schutz bot, lassen uns in die Geschichte eintauchen. Im Gästehaus des Bergführers Pavlin Polia, einem der treibenden Kräfte bei der Errichtung des grenzüberschreitenden „Peaks of the Balkans“, bekommen wir Quartier und solide Verpflegung mit frischen regionalen Produkten.
Abkühlung an Wasserfällen und Karstquellen
Am nächsten Tag geht es weiter entlang der malerischen Heuschober und traditionellen Holzzäune, des rauschenden Flusses und imposanten Grunas Wasserfalls auf alten Saumpfaden zum Weiler Nderlysa und zur tiefblauen Karstquelle „Blue Eye“. Dort ist ein erfrischendes Bad die willkommene Abwechslung auf dieser schweißtreibenden Wanderung – die Temperaturen sind inzwischen auf 36 Grad geklettert.
Unsere internationale Wandergruppe im Theti Nationalpark in Theth. Foto: Minh Chau
Schließlich heißt es während der Rückfahrt über den malerischen Terthorja Pass auf 1.630 Metern Höhe der Bergwelt „Pfiat di“ sagen. Es geht wieder nach Shkodra, wo uns ein komfortables traditionelles Gasthaus und eine reichlich gedeckte Tafel erwarten und die an Eindrücken reiche Wanderreise ein Ende hat. Mit Wehmut gehen wir auseinander und die meisten sind sich sicher: Sie werden wiederkommen.
Von den Bergen zum Meer
Die Kirche St. Sergius und Bacchus in den Ruinen von Alt-Himarë. Foto: Ines Wagner
Um den Schweiß und Staub der Berge abzuspülen und die vom Wandern müden Füße auszuruhen, hänge ich noch ein paar Tage am Strand an. Ich habe mir das Städtchen Himarë ausgesucht, dessen unterschiedliche Strandabschnitte mit kristallklarem Wasser am Ufer der Albanischen Rivera, etwa fünf Stunden Busreise von Tirana entfernt, entlang verlaufen. Das antike Himarë indes thront etwa eine dreiviertel Stunde Fußmarsch entfernt auf dem Berg mit sagenhafter Aussicht auf die Küste. Die Reste der ehemaligen Burg von Himarë sind über 1.000 Jahre alt – um 1010 war die Kirche St. Sergius und Bacchus ein Bischofssitz, ihre Grundmauern gehen auf das Jahr 768 zurück.
Von Ismail Kandare lernen
Geschichtlich ist Albanien von illyrischen, römischen, osmanischen und italienischen Einflüssen geprägt, wiewohl von der Paranoia des Diktators Enver Hoxha. Vieles über Geschichte und Kultur des Landes erfahre in den Romanen von Albaniens berühmtesten Schriftsteller Ismail Kandare, der 1936 in Gjirokasta geboren wurde, welches ich mir für die nächste Albanien-Reise vornehme.
Der zentrale Skanderbeg-Platz in Tirana vereint Geschichte und Gegenwart. Foto: Ines Wagner
Einen spannenden Gegensatz zu Bergwelt und Strandurlaub bildet zum Abschluss die Hauptstadt Tirana. Dort mischt sich Altes mit Neuem, osmanische Gebäude mit kommunistischem Erbe und zeitgenössischer Architektur. Das bunte Nebeneinander von Kulturen und Epochen ist besonders reizvoll. Der zentrale Skanderbeg-Platz wirkt keineswegs kommunistisch-protzig, sondern luftig und leicht. Die ganze Stadt ist sagenhaft grün und jung. Der Abschied fällt mir am Ende schwer. Aber ich werde ganz sicher wiederkommen.