Prag Hauptbahnhof

Prag ist nicht nur Franz Kafka

Ankommen in Prag: Hauptbahnhof. Foto: Peter Becher

Online-Lesung

Einen stimmungsvollen, poetischen, aber auch informativen Abend schenkte Peter Becher den Zuhörenden mit seiner Lesung „Prager Tagebuch“, organisiert von der vhs Oberland. Einen Bogen schlägt eine schlanke Königin in der Goldenen Stadt, die dem Autor Bemerkungen zuwirft.

Man werde Prag jetzt mit anderen Augen und in einem neuen Licht sehen, resümierte vhs-Leiter Thomas Mandl nach der einstündigen Lesung, die durch zahlreiche Fotos bereichert wurde.

„Prager Tagebuch“ eröffnet neue Perspektiven

Die tschechische Hauptstadt werde jährlich von etwa sechs Millionen Touristen bevölkert, Junggesellenabschiede mit viel Alkohol würden die Stadt vergewaltigen. Andererseits hätten insbesondere deutsche Touristen nur Interesse an Franz Kafka, meint Thomas Mandl.

Peter Becher aber würde uns neue Perspektiven eröffnen. Der Literaturhistoriker und Schriftsteller mit sudetendeutschen Wurzeln habe zahlreiche Auszeichnungen empfangen und aus einem Aufenthalt im Literaturhaus in Prag im Jahr 2019 das „Prager Tagebuch“ verfasst.

Mit historischen Ereignissen gewürzt

Wie ein Tagebuch ist der Inhalt auch strukturiert. Peter Becher nahm seine Zuhörerinnen mit im Bus von München nach Prag und beim Ankommen in Prag reflektierte er, wer denn schon vor ihm angekommen sei. Immer wieder würzte er seine aktuellen Beobachtungen mit historischen Ereignissen. So die Geschichte von Jaroslav Hašek, berühmt durch seinen „braven Soldaten Schwejk“, der eine tschechische und eine russische Ehefrau hatte.

Der fliegende Roland
Der fliegende Roland. Foto: Peter Becher

Der Autor erinnerte sich auch an seine erste Reise nach Prag vor 35 Jahren, als es in der Stadt noch nichts Westliches, dafür aber das gute tschechische Essen gab. Bei seinen Streifzügen durch Prag entdeckte Peter Becher vieles, was dem normalen Touristen vielleicht nicht auffällt. Der „Fliegende Roland“ mit Schirm und Aktentasche etwa oder ein Haus mit gelber Fassade, auf dessen Giebel ein nacktes steinernes Paar zu sehen ist.

Feinsinnige poetische Sprache

All das beschreibt Peter Becher in einer feinsinnigen, poetischen Sprache, die leichtfüßig daherkommt, indes Trauriges und Heiteres gleichermaßen einfühlsam beschreibt.

Prag Attentäter
Museum für Attentäter von Reinhard Heydrich. Foto: Peter Becher

Er entdeckt in einem Keller ein leicht verstaubtes Museum, das den Attentätern von Reinhard Heydrich gewidmet ist, Stellvertretendem Reichsprotektor für Böhmen und Mähren. Lähmende Betroffenheit habe sich bei ihm breit gemacht, gesteht der Autor, als er verstand, dass sich die Attentäter hier verschanzten und sich mit ihren letzten Kugeln erschossen.

Sinnhaftigkeit des Attentats

Dieses historische Ereignis lässt Peter Becher mit dem Diplomaten František Černý über die Sinnhaftigkeit des Attentats nachdenken. Weder politisch noch moralisch gebe es eine eindeutige Antwort.

Prag Kinderhände
Kinderhände. Foto: Peter Becher

Ebenso eindringlich schreibt er über eine Installation mit Kinderhänden in einer Unterführung. Sie soll an die 600 jüdischen Kinder erinnern, die durch die humanitäre Hilfe Sir Nicholas Wintons nach England ausreisen durften, während ihre Eltern in den Konzentrationslagern der Nazis umkamen. Diesem Abgrund der Geschichte in der Tiefe stellt der scharfe Beobachter einen Gegensatz in der Höhe entgegen. Dort entdeckte er in der Halle des Hauptbahnhofs steinerne Figuren, die Königinnen darstellen. Die schlanke ganz rechts habe ihm zugerufen: „Wir hätten es wissen müssen.“

Königinnen
Drei Königinnen im Hauptbahnhof. Foto: Peter Becher

Peter Becher schlendert aber auch durch die Bars der Kleinseite der Goldenen Stadt und entdeckt ein sich küssendes Paar am Fuße der Karlsbrücke.

Prag
Küssendes Paar an der Karlsbrücke. Foto: Peter Becher

Bei einem Ausflug aufs Land findet er eine Werbung für die Zeitschrift „Respekt“ neben einer Bierwerbung und beschreibt den morbiden Charme eines Busbahnhofs.

Glück des zufriedenen Daseins

Als am 16. April die Hiobsbotschaft um die Welt geht, dass Notre Dame in Paris brennt, interpretiert Peter Becher dies im Austausch mit den tschechischen Freunden als Zeichen, dass die fetten 70 Jahre des Westens nun zu Ende gehen. Als Gegengewicht sieht er in den Spaziergängern des Perückenmacherparks das Glück eines einfachen zufriedenen Daseins. Allerdings findet er auch hier unter blühenden Bäumen eine dunkle Seite: Bunker, die als Schutz gegen einen Atomkrieg gebaut wurden.

Perückenmacherpark
Bunker im Perückenmacherpark. Foto: Peter Becher

Nach einem österlichen Besuch des Friedhofs, bei dem der Autor ein Stück tschechische Kulturgeschichte Revue passieren lässt, geht er noch ein letztes Mal zur schlanken Königin in der Wartehalle, die ihm schon einmal eine Bemerkung zuwarf. „Du kommst doch wieder“, ruft sie.

Königin
Die schlanke Königin. Foto: Peter Becher

Eine Aufforderung, der sich nach dieser Lesung wohl jede Zuhörerin zu eigen macht. Zuvor aber empfiehlt es sich, das „Prager Tagebuch“ zu lesen, um dann erwartungsfroh die beschriebenen Stätten in der Goldenen Stadt, einer unbegreiflichen Stadt, wie Peter Becher es formuliert, aufzusuchen.


Prager Tagebuch Cover.

Peter Becher, „Prager Tagebuch“, Vitalis Verlag

Zum Weiterlesen: Mähren zu Gast in der Volkshochschule

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