Prost & Prosa Entschleunigung

Entschleunigung per Sekret und Dekret

Der Autor des Beitrages bei einer Lesung. Foto: Thomas Nowak

Gastbeitrag eines Lyrikers

Prost & Prosa in Zeiten der Pandemie: Vollbremsung als Chance und warum Erfolglosigkeit sich plötzlich als Glücksfall erweist. Eine Polemik.

Ich muss es jetzt mal sagen und ich weiß, das mag in diesen Corona-Zeiten befremdlich anmuten: Es geht mir gut. Klar, ich bin ja auch kein Kleinunternehmer, der um seine Existenz bangen muss (zumindest vorläufig nicht) und habe deshalb gut reden. Mit Gastronomen oder Ergotherapeuten etwa möchte ich aktuell nicht tauschen.

Entschleunigung und Umwelt atmet auf

Ist ja alles im Umbruch; oder besser gesagt Abbruch? Gewiss- wie Sicherheiten gehen gerade den Bach runter oder sonstwo hin, die Umwelt atmet auf und mit ihr nicht nur die Chinesen. Dass da ein Anhänger der ambitionierten Alliteration (so wie ich) Prost und Prosa und Pandemie jetzt lustvoll, weil naheliegend zusammenpanscht – geschenkt!

Dennoch: Wenn eine Gesellschaft, ja ein ganzer Planet plötzlich eine Vollbremsung hinlegt (Entschleunigung erst per Sekret und per Dekret), ist auch und gerade jetzt die Kunst strapaziert und gefordert. Dieses Virus stellt ja lieb- bzw. hassgewordene Befindlichkeiten holterdiepolter, mir nichts und dir auch nichts, auf den Kreativ-Kopf.

Umdenken statt andenken

Umdenken statt „andenken“ (ein dummes Unwort, aus der Hipster-Rhetorik des landläufigen Lallens; aber das nur nebenbei): Wer gestern noch maulte, nicht von seiner Kunst leben zu können und eben diese durch triste wie Sicherheitsmodusfixierter Angestelltenknechtschaft quersubventionierte (Sachzwang!), ist heute ganz froh, nicht von seinen Büchern, Gemälden oder Musikdarbietungen Miete und Unterhalt zahlen zu müssen.

Pandemie

Kleinlaut sein und leisetreten, ist eh schon immer eine super Kombi gewesen. Und seien wir ehrlich: Wie weggeblasen ist plötzlich dieses verschnupfte Gefühl, wenn der eigene Kreativ-Auswurf im sozialen Umfeld stets frivolwollend als „nettes Hobby“ nur leicht unter Bedeutungslosigkeit einsortiert wurde. Ein Hobby zum Beruf machen, ist ja eh etwas, was man sich dreimal überlegen sollte, bevor man einen geräumigen Elfenbeinturm bezieht.

(An dieser Stelle, ganz ohne Ironie Grüße an alle professionellen Künstler! Haltet durch! Wir brauchen euch!)

Seien wir ehrlich: Bei allem Missmut über entgangene Auftritte und Ausstellungen fühlt man sich doch jetzt wie jemand, der bis vor kurzem noch überlegt hatte, seine Ersparnisse in Aktien zu investieren und dies aus irgendwelchen Gründen dann doch hat sein lassen. Unentschlossenheit als Chance, ein Lob der Trägheit – Glück haben, ist halt auch immer eine Sache der Perspektive und des falschen Zeitpunkts im richtigen Kontext. Gerne auch mal andersrum.

Lesetipp: Zündende Sprachsalven mit Prost & Prosa

Apropos Kontext: Unsere Sprache besinnt sich dieser Tage wieder auf Tradiertes und einen neuen Wertekanon inkl. Bildungsoffensive. Entgeisterung beim Zeitgeist: Wer heute „Virus“ sagt, denkt nicht mehr sofort an eine Bedrohung aus dem weltweiten Netz und „Corona-Partys“ wären vor wenigen Wochen noch als albernes, gleichwohl werbewirksames Saufgelage unseres Lieblingsmexikaners durchgegangen.

Volker Camehn liest Lyrik - Kultur verbindet

Wir lernen zudem gerade viel über Statistik, Medizin und Mathematik („exponentielles Wachstum“) und dass menschliche Nähe kein Wert an sich ist („social distancing“). Das haben wir zwar schon immer geahnt (etwa an Weihnachten), aber jetzt ist Abstand geradezu geboten und wir haben gute Argumente, die lästigen Besuche in Alten- und Pflegeheimen endlich einzustellen.

Und auch das lernt man derzeit: Solidarität endet spätestens am Supermarktregal („Hamsterkäufe“) und dass Anteilseignern von Firmen (Aktionäre, s.o.) mehr am Anteil liegt, als an der Firma. Früher hieß das Spekulation (raffiniert!), heute Panikverkäufe (hysterisch!).

Home Office, ein Begriff, dem sonst der Mief von Schlendrian und böswilligem Kontrollentzug anhaftete, ist jetzt Ausdruck von Flexibilität und Verantwortungsbewusstsein gegenüber Firma, Familie und Vaterland.

Entschleunigung als Quell der Inspiration?

Also, liebe Kreativ-Kolleginnen und -Kollegen: Wenn das kein Quell der Inspiration ist, was denn dann?

Aber erstmal durchschnaufen und Prost! Ich für meinen Teil nehme gerne auch noch im nächsten Jahr alle wichtigen Literaturauszeichnungen für meine Prosa entgegen, die mir heuer womöglich verweigert worden wären. Ab und zu veranstalte ich jetzt Online-Lesungen/Konzerte via Instagram und Facebook und versuche das Beste aus allem zu machen. Motto: Machen in der Not, dann hast du, wenn es dir gut geht. Und ja doch, ich würde gerne von meiner Kunst leben. Habe aber aktuell das Glück, bislang an meinem Anspruch gescheitert zu sein. Gescheiter werde ich deshalb jedoch nicht. Bloß nicht! Ich arbeite weiter daran. Wohl wissend: Mit dieser Art der wunderbaren Dummheit bin ich zum Glück nicht alleine.

Ansonsten geht es mir noch gut. Danke der Nachfrage!

Weiterlesen: Ein Prost auf die Prosa! 

Volker Camehn, 55, ist Teilzeit-Redakteur, Lyriker und Musiker. Im Rahmen seine Projektes „Prost & Prosa“ hat der Wahl-Otterfinger bisher vier Gedichtbände im Eigenverlag veröffentlicht.

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