Rewilding: die Natur Natur sein lassen
Ulrich Stöcker ist Bereichsleiter Naturschutz und Biodiversität der DUH. Der Jurist ist seit 30 Jahren im Umweltschutz tätig. Foto: Steffen Holzmann
Onlinevortrag im Zukunftsforum
Es klingt ein bisschen paradiesisch und könnte doch ein entscheidender Weg für unsere Zukunft sein: Rewilding – natürliche Ökosysteme als Wildnisgebiete sich selbst überlassen. Der Effekt: Verloren geglaubte Fauna und Flora kehren zurück, erholen sich und sichern damit das, was wir alle zum Überleben brauchen: Biodiversität. Am kommenden Samstag, dem 20. März 2021, ist übrigens der erste World Rewilding Day.
New Wilderness – das war der fünfte Impulsvortrag im Rahmen des Zukunftsforums von „anders wachsen“. Ulrich Stöcker, Bereichsleiter Naturschutz und Biodiversität der Deutschen Umwelthilfe e.V. (DUH), erklärte in seinem Vortrag „Rewilding – die neue Wildheit in Deutschland“ ein junges, vielversprechendes und progressives Konzept für die Wiederherstellung und Heilung von Flora und Fauna – in Deutschland, Europa und weltweit.
Mitten am Taubenberg gibt es ein 2,5 Hektar großes Waldstück. Dort liegen die Bäume kreuz und quer. Totholz, Schadholz, Urwald. Die Bewirtschaftung dieses staatlichen Waldes lohnt sich hier nicht mehr. Der Wald bleibt sich selbst überlassen. Zur Freude der Fauna und Flora, zur Freude des Weißrückenspechts oder des Dreizehenspechts: Beide Spechtarten brauchen Wald mit einem hohen Anteil an Tot- oder Schadholz, um Nahrung zu finden. Angesichts der intensiven Waldwirtschaft eher eine Seltenheit. Aber der Weißrückenspecht kehrt an den Taubenberg zurück. Das ist Rewilding – ohne allerdings bewusst als Rewilding-Initiative deklariert worden zu sein. Wo gibt es also das offiziell „wilde“ Deutschland?
Das Oder Delta ist das erste Rewildinggebiet in Deutschland. Mittendrin das zauberhafte Stettiner Haff mit 70.000 Hektar Wasserfläche. Foto: Rewilding Webseite
Im Oder Delta schwimmt die Kegelrobbe wieder flußaufwärts
Wenden wir den Blick vom Süden in den hohen Norden an die Ostsee, genauer zum verzweigten Flussdelta der Oder, des Grenzflusses zwischen Deutschland und Polen. Elche, Wisent, Wolf, Fischadler, Fischotter und baltischer Stör sind mittlerweile wieder zurückgekehrt in dieses 450.000 Hektar große, weitgehend unversehrte Naturgebiet. 2015 wurde das Oder Delta als erstes Rewildinggebiet Deutschlands und als achtes Projekt von der übergeordnete Rewilding Europe Initiative anerkannt. 2019 folgte die Gründung des Rewilding Oder Delta e.V. (ROD). Mitinitiator: Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und Ulrich Stöcker.
Das Oder Delta – die Bilder zeigen ein beinahe paradiesisches Naturgebiet mit 70.000 Hektar Wasserfläche, mitten in Mitteleuropa. Es gilt mit dem Stettiner Haff als ein ökologischer Knotenpunkt Europas, vor allem auch für Zugvögel. Aber auch im Wasser ändert sich vieles. Mittlerweile fühlt sich die Kegelrobbe wieder heimisch und schwimmt den Fischschwärmen flussaufwärts hinterher. Das sei früher oft der Fall gewesen, erzählt Stöcker. „Die Kegelrobbe gehört mit dem Wisent, dem Wolf u.s.w. zu den Big Seven“, so erklärt Ulrich Stöcker, der als DUH Bereichsleiter auch verantwortlicher Teamleiter für Deutschland im grenzübergreifenden Rewilding-Programm im Oderdelta ist. „Diese Big Seven tragen wesentlich zum Gleichgewicht in der Region bei.“ Große Pflanzen- und Fleischfresser sind unverzichtbar in einem gesunden Ökosystem.
Rewilding – eine Alternative zum kostenintensiven Pflegenaturschutz?
Die mittlerweile welt- und europaweite Initiative des Rewilding stellt eine vielversprechende und auch von der Politik sehr ernstgenommene Alternative zu dem pflegeintensiven Naturschutz dar. Der Naturschutz hat in den letzten Jahren durch massive Einsparungen gelitten. Rewilding ist dagegen wesentlich kostengünstiger: Hier werden keine Landflächen erworben, sondern bestehende Ökosysteme als schützenswert sich selbst überlassen. Beim Rewilding besteht die Aufgabe des Menschen schlicht darin, möglichst nichts zu tun, sich zurückzuziehen und die Natur sich selbst zu überlassen. Weitere Aufgaben sind:
• Eventuell anfänglich eine Wiederherstellung natürlicher Verhältnisse zu veranlassen,
• Wanderwege der Tiere zu sichern und offen zu halten,
• natürliche Ereignisse, wie beispielsweise Dammbrüche, als naturgegeben zu akzeptieren und einfach geschehen zu lassen
• und die Komplexität der notwendigen Nahrungsketten zu unterstützen.
Am Beispiel des Oder Deltas zeigt sich die Wirkung: Die Natur erholt sich und sorgt auf natürlichem Weg für die Regenerierung der Artenvielfalt. Die Wiederherstellung der Biodiversität gilt nicht erst seit Kurzem als der Schlüssel zu einer gesunden, widerstandsfähigen Umwelt und damit zur Sicherung des Überlebens unserer Erde. Den Ansatz „Rewilding“ gibt es tatsächlich erst seit rund 10 Jahren.
„Rewilding passt wie die Faust aufs Auge in die moderne Auffassung von Naturschutz“
Die Vision von Rewilding findet aktuell großen Anklang in den offiziellen Maßnahmen der Länder und weltweiten Netzwerke zum Schutz der Natur: Dieses Jahr wird eine UN DEKADE zur Wiederherstellung der Ökosysteme bis 2030 gestartet. Auf EU-Ebene gibt es eine entsprechende Initiative. Ziel wird es sein, je 30 Prozent terrestrische und marine Anteile Europas zur Schutzzone zu erklären; für die Wiederherstellung geschädigter Land- und Meeressysteme in ganz Europa zu sorgen und rechtsverbindliche Ziele zu definieren; 25.000 Kilometer freifließende Flüsse zu etablieren.
Florian Bossert ist Gebietsbetreuer des Mangfallgebirges. Er beklagt einen zunehmend respektlosen Umgang mit der Natur im Oberland. Foto: Screenshot Becky Köhl
Den Menschen über eine regionale, naturnahe Wirtschaft einbeziehen.
Das alles geht natürlich nicht ohne die Akzeptanz der Menschen, die im Grenzbereich der Rewildinggebiete leben oder gar ihren Lebensunterhalt bisher mit der Nutzung des Lebensraums verdienen. „Wir müssen hier behutsam kommunizieren“, sagt Stöcker. Fischer, Landwirte, Tourismus – sie alle müssen einbezogen werden. Florian Bossert, Gebietsbetreuer Mangfallgebirge im Landkreis Miesbach nahm ebenfalls an dem Vortrag teil und bestätigte: „Sobald wir mit Naturschutz kommen und am Ende noch das Wort ‚Wolf‘ fällt, ist die Kommunikationsbereitschaft der Landwirte meist sofort beendet. Die Spannungen zwischen Naturschutz und Bevölkerung sind teils immens.“ Stöcker berichtet aber auch von großen Erfolgen, beispielsweise von einem Fischer, der mittlerweile 80 Prozent seines Umsatzes mit dem Tourismus rund um den Seeadler bestreitet.
Der Tourismus profitiert von Rewilding Projekten. Im Oder Delta entwickelt man nachhaltige Tourismusangebote, die im Einklang mit dem Naturschutz stehen. Beispielsweise gibt es geführte Touren. Demnächst startet die Ausbildung von 30 Nature Guides. Im gesamten Gebiet sind Beobachtungsplätze für Naturliebhaber eingerichtet. Die gibt es übrigens auch im Mangfallgebirge. „Da beobachten wir aber oft eine eher gestörte Beziehung zur Natur – die Beobachtungshütten werden bei uns zum Teil als Biwakhütten missbraucht,“ erzählt Bossert.
Umsetzung von Rewilding im Landkreis Miesbach
Ulrich Stöcker weist in seinem Vortrag immer wieder auf die Besonderheiten des Voralpen- und Alpengebiets. Eine der vorbildlichen Rewilding-Initiativen ist in den französischen Alpen in Vorbereitung. „Das könnte auch ein wegweisendes Projekt für den Landkreis Miesbach sein.“ Immer wieder greift Stöcker das Thema „Weidewirtschaft“ auf. Das Abmähen der Weideflächen ist ein störender Eingriff in die Biodiversität. Abgrasen der Weideflächen wäre besser. „Der Dung von großen Pflanzenfressern zieht wiederum Käfer und viele andere kleine Tierarten an, die für den Boden und als Nahrung für andere Tiere von großer Bedeutung sind.“
Biologe Dr. Henning Fromm plädiert für mehr Wildnis im Forstbereich. Am Taubenberg ist in einem naturbelassenen Forstgebiet der Weißrückenspecht wieder heimisch geworden. Foto: Screenshot Becky Köhl
Im Landkreis kommt es auf jede Initiative an – ob groß oder klein
Der Biologe Dr. Henning Fromm nahm als ausgewiesener Spezialist für den Weißrückenspecht an der Veranstaltung teil. Im Hintergrund seines Bildschirms sahen alle Beteiligten den Urwald vom Taubenberg. Bossert und Fromm sehen den großen Unterschied zwischen dem Oberland und dem Odergebiet in der Größe der natürlichen Flächen. „Wir haben keine so großen Flächen, die wir als Rewildinggebiete ausweisen könnten. Dazu ist bei uns die Besiedlung zu eng und vor allem das Freizeitverhalten zu intensiv.“ Gerade deshalb käme es auf die vielen kleinen Initiativen an, beispielsweise auf die eingangs erwähnten 2,5 Hektar am Taubenberg. Im Grunde kann jeder, der einen Wald besitzt, zur Artenvielfalt beitragen.
Was viele aber nicht wissen: Es gibt von Seiten des Staatsforstes ernsthafte Bemühungen für die Schaffung von Wildnis in den Bayerischen Wäldern. Jörg Meyer, Forstbetriebsleiter Gebiet Schliersee, weist in einer schriftlichen Botschaft daraufhin, dass gut 10 Prozent der gesamten Staatswaldfläche nicht aktiv bewirtschaftet werde und einer natürlichen Entwicklung überlassen sei. Im Gebirgsraum sei der Anteil noch höher und stelle damit einen wichtigen Lebensraum für Tiere und Pflanzen dar. „Erst vor wenigen Monaten sind mehrere tausend Hektar Staatswald in Bayern zusätzlich als Naturwaldflächen ausgewiesen worden. Damit erfüllt Bayern bereits jetzt das politisch verankerte Naturwaldflächenziel.“ Monika Ziegler meinte abschließend, es müsse ja nicht immer alles so aufgeräumt sein – nicht mal der Garten.