Almost Birds – die Vögel sind los
Riccardo Milazzos neue Serie heißt „Almost Birds“. Foto: IW
Bei Riccardo Milazzo geht es immer um alles oder nichts. Man stellt sich unwillkürlich vor, wie er weder isst noch schläft, stattdessen wie besessen zeichnet. Hat er ein neues Thema gefunden, beißt er sich darin fest und durch, bis die Phase des Schaffens durch eine Phase der Erschöpfung abgelöst wird. In den letzten Wochen sind etwa 80 Zeichnungen entstanden, eine pro Tag. Oder pro Nacht, wie man es nimmt. Jetzt, sagt er, fühle er sich etwas ausgebrannt. Aber er macht trotzdem weiter.
Nein, sagt er, er sei keineswegs in Ekstase bei seiner Arbeit, sondern es sei sogar meist eine relativ nervige Arbeit, die selbst für ihn, dem das Zeichnen leicht von der Hand geht, überraschend anstrengend ist. Wegen der permanenten Mikroanspannung und ständigen Aufmerksamkeit. Er müsse „irgendwie durch den Prozess“. Freude mache am Ende vor allem das Ergebnis und die Vorstellung, dass seine Vögel bald ausfliegen, an die Wände in den Wohnzimmern anderer Leute, und ihnen viel Freude bereiten. Ein Teil dieses Arbeitsprozesses, der großen Spaß gemacht hat, war das digitale Nachbereiten der Zeichnungen. Und groß war die Freude auch dann, wenn ein Bild schon einen neuen Besitzer fand, wie „Die neue, selbstspielende ‚Birder‘ Gitarre“, von deren Erlös er sich – was sonst? … eine neue Gitarre gekauft hat.
„Die neue, selbstspielende ‚Birder‘ Gitarre“ führt folgerichtig zu einer neuen Gitarre. Foto: Riccardo Milazzo
Kunst und Musik
Denn neben dem Künstler Riccardo Milazzo gibt es auch den Gitarristen Riccardo Milazzo, der bei der Familienausstellung im Jagerhaus Gmund auf einer seiner selbst konstruierten Diddle Bow spielte. Sonst tritt er eher selten öffentlich in Erscheinung. Wenn er jedoch so in seinem Zimmer sitzt und die Nächte gitarrenspielend verbringt statt zeichnend, komponiert er Songs, die ebenso tiefgründig und sonderbar wie seine Zeichnungen sind und skurille Titel tragen wie: „those butterflies in my stomach feel kinda weird, i must have eaten the wrong type of caterpillar.“ Wer in die Welt des Riccardo Milazzo eintaucht, braucht Fantasie. Sobald man sich darauf einlässt, tut sich ein neuer Kosmos auf. Oftmals verbeißt er sich geradezu in ein Thema, deshalb gibt es immer viel Einzutauchen und zu Entdecken.
Im Garten findet sich das ganze Jahr über Inspiration – Mutter Waltraud Milazzo fertigt Vögel aus Ton. Foto: Riccardo Milazzo
Wie seine eigenwilligen, fantasievollen Vögel entstehen, baut er sich auch eigene Gitarrenkonstruktionen, um auf ihnen musikalisch noch Eigenwilligeres zu produzieren. Bei seiner „lustigen bundlosen Shortscale Bariton Gitarre“ hat er die Bünde entfernt, die einen Gitarristen dabei unterstützen, leicht die Töne zu treffen. Aber warum leicht? Leicht macht es sich Riccardo wahrlich nicht. Im Leben nicht und auch nicht in seiner Kunst. Und schon gar nicht in der Vermarktung dieser. Denn eigentlich wissen die wenigsten Menschen im Landkreis, dass ein so großartiger Zeichner unter ihnen lebt. Weil er sich selbst und seine Kunst nicht so wichtig nimmt und weil er wenig präsent ist, abgesehen von seinen Teilnahmen an der Tegernseer Kunstausstellung und den wenigen Ausstellungen der ganzen Milazzo-Künstlerfamilie.
Von der Pigmenttusche wieder zu Bleistift und digitalem Buntstift
Dafür ist seine Kunst jetzt endlich wieder bunt geworden, nach einer langen Schaffensperiode mit schwarzer Pigmenttusche. Ob’s am verspäteten, aber umso freudiger empfundenen Frühling und Sommer 2023 liegt? Mit der Serie der in Bleistift gezeichneten Vögel sind die Farben durch die digitale Nachbereitung wieder eingezogen in seine Bilderwelt. Ein „DreivogelUFOirgendwas“ kommt in der Serie genauso vor wie ein „Stahlverstärkter Vogel“ oder ein „Birdio“, der einem Radio gleicht. Es gibt einen „Blumenschlüsselschloßtraumtoastervogel“, aber auch einen „Einvogel“ und einen „Vielvogel“.
Der „Einfedriger Bändergroßschnabel“ reckt sein schönes Gefieder. Der „Einbeinige Dreiköpfling“ hat Mühe, sein Gleichgewicht zu halten und der „Cosmic Bird“ schaut, trotz Sternenfunkeln in den Augen, traurig aus. Wieder hat Riccardo Milazzo eine ganz eigene, in sich verschachtelte, geheimnisvolle Parallelwelt geschaffen, die sich diejenigen selbst entschlüsseln können, die sie betreten. Genau wie in „Das Nachtgewand der Sterne“, dem Buch, das er während der Pandemie geschrieben hat. Dazu weiter unten mehr, bleiben wir zunächst bei den Zeichnungen.
Riccardos Fantasie kennt keine Grenzen. Repro: IW
Almost Birds – von schwarzweiß zu bunt
„Eigentlich finde ich meine Bleistiftzeichnungen ja sehr bunt und ich frage mich, ob es nicht in Wahrheit weniger bunt wird, wenn ich tatsächlich den Farbstift noch dazu nehme“, wundert er sich zuweilen. Immer wieder stellt er den Originalzeichnungen die Verfremdungen gegenüber und wer Riccardo Milazzo kennt, weiß, dass sich bei ihm zu Hause bereits mehrere Ordner mit den neuen „Birdies“ türmen, den bleistiftigen und den bunten.
Riccardo Milazzo Serie Almost Birds: „Vogelfamilie mit zwei Kindern“ und „Main Battle Bird“. Repro: IW
Die „Vogelfamilie mit zwei Küken“ lebt in einem innig-familiären Rahmen der Geborgenheit, während auch der Krieg Einzug findet in die fantastische Vogelwelt. Sodass sich dort mechanische Vögel tummeln, die wie Panzer durch die Gegend rollen und ihre Kanonen und Gewehrläufe gefechtsbereit halten oder Pickelhauben tragen. Sie heißen etwa „Kanonenvogel“, „Schlachtvogel“ oder „Main Battle Bird“. Indem er die Vögel in die Schlacht schickt, thematisiert er die Absurdität des Krieges. Er zerlegt die Welt, stellt sie auf den Kopf, setzt sie neu zusammen. Die Birdies sind allesamt allegorische Figuren.
Mit dem „Reelrooster“ (links) fing die Serie an, gefolgt vom „Love Rooster“. Repro: IW
Die neue Schaffensphase begann Ende April, als der Künstler sich fragte, ob er eigentlich auch etwas Realistisches nach einem Foto zeichnen könne. Und in der Tat, das haben wir noch nie von ihm gesehen, weil er ja diese ungezügelte Fantasie hat und sie immer wieder zu Papier bringt. „Gockelstudien“ nannte er die ersten dieser Zeichnungen, die ihm bald zu langweilig wurden, denn er wäre ja kaum so genial, wenn er einfach irgendwas realistisch abzeichnen würde.
Darauf folgten in rastloser Nachtarbeit auf den ersten „Gockel“, der den Titel „Realrooster“ erhielt, der „Love Rooster“, ein „Mechanisches Nest“, der „Muttertagsbird“ und die ganzen weiteren Zeichnungen. Man darf sich fragen, ob es dabei bleibt, oder ob seiner Fantasie noch weitere Beinahe-Vögel entschlüpfen. Wetten, das?
„Sternenvogel“ (links) und andere Stellarfahrer sind auch unter den „Almost Birds“ zu finden. Repro: IW
Das Nachtgewand der Sterne
In der von ihm betitelten „Almost Bird“-Serie gibt es auch einen schrägen Vogel, der „Sternenvogel“ heißt. Das führt zum letzten, großen Projekt des Rottacher Künstlers: Während der Pandemie hat Riccardo Milazzo ein Buch geschrieben und herausgebracht: „Das Nachtgewand der Sterne“. Auf dem Titel steht als Autorenname: Orbubraljantus. Mittels dieses geheimnisvollen Autor beschreibt er ein „Universum fernab der gewohnten Vorstellung einer Projektion der erden-menschlichen Bedingung auf die Leinwand der Sterne“. Das stimme so nicht ganz, korrigiert er, vielmehr habe Orbubraljantus ihm das Buch diktiert.
Riccardo Milazzo hat während der Pandemie ein Buch geschrieben und veröffentlicht. Foto: Milazzo Art
Es ist ein Buch, das von der Magie der Träume handelt und in eine komplett neue Welt entführt, in der der Begriff „Mensch“ im Glossar ebenso erklärt wird wie die „Floral-Brüter“, die Wesen sind, die von Pflanzen geboren werden, und das „Galaxialschiff“, das auf den Grundprinzipien der Masse aller Galaxien beruht. Ein umfangreicher Anhang gibt Erläuterungen, was es beispielsweise mit „Die Fundamente der Physik und der Kreis-der-Logik-ist“ auf sich hat und was das „Volk der Waltra’ud und ihre Welt Stril“ ausmacht. Wenn Riccardo Milazzo sich in einem Thema festbeißt, dann gründlich und von allen Seiten. Es sprudeln die Ideen, eine gebiert die nächste und so fort. Wie der süße Brei sprudelt es aus ihm heraus.
Am Ende des Buches, das einem fantastischen Traumbild gleicht, informiert der Autor, dass der Leser 428 Seiten, 109.415 Worte und 696.021 Zeichen gelesen habe. Zahlen sind etwas präzises. Man muss sich jedoch nicht unbedingt daran festhalten. Nachdem er mit dem fünfzigsten Vogel der Serie deren Abschluss verkündet hatte, sind viele weitere Vögel entstanden. Zum Glück!
Lesetipp: Solo-Ausstellung Riccardo Milazzo im Seeforum