Der Mensch will sich spüren
„Corpus Delicti“: Moritz (Constantin von Prittwitz) und die immaginäre Geliebte (Luzie Eschbaumer). Foto: IW
Theater in Tegernsee
Am Gymnasium in der Freizeit Theater spielen? Nicht nur zum Spaß, sind sich die Jugendlichen einig. Sonst hätten sie kaum derart anspruchsvollen Stoff wie Juli Zeh’s „Corpus Delicti“ gewählt. Drei aufeinanderfolgende Aufführungen forderten ihnen einiges ab – und donnernder Applaus war ihr Lohn.
Neonröhren, Desinfektionsmittel, wie Kunstblumen wirkende Orchideen und jede Menge Plastikfolie: In der perfekten Welt der „Methode“ dominieren die Farben weiß, rosa und zarte Hauttöne. Alles ist sauber und steril. Wer dagegen verstößt, wer oder was nicht geduldet und gewollt ist, wird mit einem Schuss Sagrotan weggesprüht. Aus der systemkonformen Wissenschaftlerin Mia wird unfreiwillig eine Widerständlerin. Der Freitod ihres Bruders, der der Auffassung war „wer stirbt, entwischt, wer eingefroren wird, gehört ganz dem System“ hat ihre Zweifel geweckt.
Kein Platz für Freidenker
Das System, das in Julia Zehs dicht gewobenem Roman „Die Methode“ heißt, ist perfide, perfekt und erbarmungslos. Die Menschen werden kontrolliert und ihnen die Möglichkeit, sich selbst zu spüren und frei zu leben, genommen. Es hat für Individualisten wie den eigenwilligen Moritz oder die junge Wissenschaftlerin keinen Platz. Sie bedrohen seine Existenz, hinterfragen, klagen an.
Mia (Johanna Jank, links) wird von Richterin Sophie (Alexa Erhardt) zuerst freundlich ermahnt. Foto: IW
Die Herausforderung des unkonventionellen, schwer verdaulichen Stoffes war ein Ansporn für die Gymnasiasten. Wie lässt sich eine derart entseelte Welt darstellen, ein System aus Angst und Phobie? Wie diejenigen, die sich gegen die „Methode“ stellen und ein normales, naturverbundenes Leben führen möchten? Die Jungschauspieler haben ihren Platz gefunden und alles gegeben in diesem komplexen Stück.
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Verteidiger Rosentreter (Tim Drexl, links) verzweifelt, während Heinrich Kramer (Dimitri Gatziouras, Mitte) sein Netz spinnt. Foto: IW
Überzeugend war Hauptdarstellerin Mia in der Gegenwart (Johanna Jank) ebenso wie die Mia der Vergangenheit. Johanna Harms, die diese Rolle verkörperte, sollte eigentlich im Krankenhaus liegen. Stattdessen ließ sie sich das Mitspielen nicht nehmen und diskutierte mit ihrem Bruder (Constantin von Prittwitz) dessen freidenkerischen Ideen. In der Rolle des hin- und her gerissenen Anwalts Rosentreter sprang Tim Drexl aus der anderen Theatertruppe des Gymnasiums ein und Viana Rasho als neugierige Nachbarin sogar aus der Mittelschule Holzkirchen.
Stakkato der Gesundheitsparolen
Stark spielte auch das vom System überzeugte Quartett aus Richterinnen (Alexa Erhardt, Anna Strohschneider und Marlies Oberlechner) und dem fiesen Journalisten Heinrich Kramer (Dimitri Gatziouras), der Andersdenkende erbarmungslos jagt. Als das Stück beginnt, entsteigen fünf zierliche Desinfiziererinnen transparenten Plastiktaschen – eine von vielen ungewöhnlichen Ideen, die diese entmenschte, retortengleiche Welt symbolisieren. Grausam mechanisch skandierten sie die Gesundheitsparolen der „Methode“ in diesem Stück, in dem es für Romantik und Happy End keinen Raum gibt.
Mia soll „eingefroren“ werden – das ist die Todestrafe der „Methode“. Foto: IW
Kein einfacher Stoff. „Viel zu schwierig, komplex und zu verworren“, befand Theaterlehrerin Sabine Schreiber anfangs. „Das überfordert uns, besonders die Kleinen.“ Ihre Gruppe „Die Anderen“ besteht aus Schülerinnen und Schülern der fünften bis zwölften Klasse. Diese setzte sich durch und überzeugten die Lehrerin davon, dass „Corpus Delicti“ eine spannende Herausforderung für alle ist. Ein ganzes Jahr haben sie das Thema gemeinsam erörtert und darüber philosophiert, wie es verarbeitet werden könnte. Sie haben über Faschismus und Konformismus gesprochen und kilometerlange Papierrollen beschrieben. Dabei ist die Gruppe fest zusammengewachsen.
Abstrakter Akt der Folter – alles in sterilem Weiß und harmlos scheinendem Rosa. Foto: IW
Am Ende haben sie gemeinsam alle Schwierigkeiten und Hindernisse gemeistert. Nicht nur die hochkomplexe Geschichte, auch die immer wieder spannende Frage, wie so viele Jugendliche in einem Stück jeweils ihre passende Rolle finden und spielen können. Zwischenzeitlich hatte es auch ausgesehen, als sei das Aus für das diesjährige Stück unabwendbar. Die Schulleitung hatte kurz vor dem intensiven Probenbeginn mitgeteilt, dass sie die Schüler aus der Q12 wegen der bevorstehenden Abiturprüfungen nicht vom Unterricht freigestellt würde. Damit war die ursprünglich für März geplante Premiere geplatzt. Aber die etwa dreißig jungen Theaterspielenden und Sabine Schreiber gaben sich nicht geschlagen. Sie probten in ihrer Freizeit, verschoben den Termin und verlegten den Spielort ins Alte Schalthaus des E-Werks.
Großartige, minimalistische Kulisse
Mangels Bühne wurde ein Laufsteg aufgebaut, der eine permanent hohe Präsenz der Jugendlichen erforderte, da sich niemand in die Kulissen zurückziehen konnte. Auch das Publikum wurde zum Teil des Stückes. Es konnte sich der Dichte des Stoffes, der Tragik der nahenden Katastrophe nicht entziehen. Großartig waren auch die konsequent minimalistischen Kostüme, die Requisiten, die Lichteffekte sowie die passende Musik. Die düstere Atmosphäre aus Denunziation und Überwachung, die abstrakte Darstellung von Folter und schließlich das albtraumhafte Urteil – alles in allem kein Happy End, aber viel Anregung zum Nachdenken.
Wohlverdienter Applaus für die Gruppe und Diplom-Dramaturgin Sabine Schreiber (Mitte). Foto: IW
Hut ab vor den Jugendlichen, sich diesem Stoff zu widmen und konsequent durchzuziehen. Sommertheater könnte leichter sein – aber wäre dann womöglich weniger bewegend. Beeindruckt haben sie, „Die Anderen“ und ihre Sabine Schreiber. Dass die Theaterpädagogin mit „Corpus Delicti“ zum letzten Mal mit ihren Schülerinnen und Schülern auf der Bühne stand, ist ein Verlust.
Und hier noch für alle Leser „Corpus Delicti to Go“ – die Handlung auf einen Blick: