Vom Schwefelwasser zur Erinnerungskultur
Das „Schwefelwasser“ brachte Aufschwung nach Wiessee und machte es zum mondänen Badeort – die historische Postkarte vom alten Jodschwefelbad zeigt ein Idyll. Foto: Bad Wiessee, Gemeindearchiv
Buchrezension – Erinnerungskultur in Bad Wiessee
Das Jod-Schwefelbad in Bad Wiessee hat im Juni sein neues Badehaus eingeweiht – Grund genug, einmal wieder auf dessen spannende Geschichte zu blicken. Da passt es hervorragend, dass heute das Buch „Schwefelwasser“ des Niederländers Reinjan Mulder in der deutschen Übersetzung erscheint. Es wirft einen literarisch-philosophischen Blick auf die Geschichte des Ortes mit seinem Heilwasser und leistet einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur der Tegernseer Tal Region.
Reinjan Mulder hat sich auf Spurensuche begeben – in Bad Wiessee, Berchtesgaden, in München und in den Niederlanden. Hat mit Historikern, Archivaren, Zeitzeugen und Familienangehörigen gesprochen – um ein Bild von Bad Wiessee zu zeichnen. Oder vielmehr: um ein Bild von Bad Wiessee nachzuzeichnen und zu korrigieren. Das Bild in seinem Kopf. Es zeigt „Haus Jungbrunnen“, gebaut 1926 von Hitlers späterem Lieblingsarchitekten Alois Degano. Es ist der Sommer 1966. Ein Junge, der seine Nase stets in Bücher steckt, Mädchen mit blonden Zöpfen, Wanderungen in die Berge.
Bei der Ankunft in Bad Wiessee am Haus Jungbrunnen 1966. Foto: Privatarchiv
Der niederländische Journalist, Literaturkritiker, Jurist und Strafrechtler Reinjan Mulder, der sich seit vielen Jahrzehnten eindringlich mit Deutschland beschäftigt und über das Strafrecht der DDR promovierte, verbrachte nach erfolgreichem Abiturabschluss 1966 eine Woche in Bad Wiessee. Eingeladen war er von einer Schulfreundin. Deren Familie besaß in dem Kurort „wo steinreiche Leute“ sich gegen Rheuma, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dergleichen behandeln lassen, Hotels, ein großes Chalet, eigene Schwimmbäder, Tennisplätze und sogar „ein eigenes Lederhosenorchester“. Die Beschreibung findet Mulder bei seinen Recherchen in einem Brief, den die Mutter begeistert über die Reise des Sohnes schrieb. Am Ende war das etwas übertrieben. Nur das Haus Jungbrunnen befand sich im Familienbesitz.
Zwavelwater, Schwefelwasser
Der Aufenthalt an der Schwelle des Erwachsenenlebens hat Mulder nachhaltig beeinflusst. Später erst sollte er erfahren, dass seine Mitschülerin eine Enkelin Adriaan Stoops war. Da war er bereits mitten in der Recherche zu seinem Buch „Zwavelwater“, in dem das Haus Jungbrunnen als nunmehr imaginärer Ort eine tragende Rolle spielt. Das Haus wurde 2010 abgerissen.
Haus Jungbrunnen im Sommer 1966. Foto: Privatarchiv
In diesem Buch erzählt er die Geschichte dieses deutschlandweit einmaligen niederländisch-deutschen Kurortes und seiner Heilquellen. Befasst sich gründlich mit der imposanten Biografie des niederländischen Bergbauingenieurs, Unternehmers und Pioniers der Erdölindustrie Adriaan Stoop, des „Schatzgräbers“ und Shell-Teilhabers, der 1909 in Wiessee statt ausreichender Mengen an Erdöl plötzlich einen für die malerische Fremdenverkehrslandschaft viel kostbareren Fund machte: die stärksten Jod-Schwefelquellen Deutschlands.
Der Verdienst von Adriaan Stoop
Ihm, der 1910 in Wiessee das erste Badehaus des Jodschwefelbades eröffnete, ist es zu verdanken das Wiessee seit 1922 den Namen Bad Wiessee trägt und sich seinerzeit zu einem der berühmtesten Kurorte Deutschlands entwickelte.
Reinjan Mulder in Amsterdam. Foto: Ingvild Richardsen
Reinjan Mulder lässt auch die Schuldfrage nicht aus, die er im philosophischen Konzept der „schuldigen Landschaft“ erörtert. Er geht der Rolle des Jodschwefelbades und seiner niederländischen Besitzer in der Zeit des Nationalsozialismus nach. Beleuchtet die Geschehnisse innerhalb der Orts- und Regionalgeschichte. Stellt die Frage nach Schuld und Mitschuld.
Gedankenexperiment
Akribisch gräbt er sich durch die Historie des Badeortes, um schließlich folgenden Gedanken zu Ende zu denken: dass es ohne die Schwefelquellen seines Landsmannes keine Kururlaube für Nazibonzen am See und folglich keinen Röhmputsch und keine „Nacht der langen Messer“ gegeben hätte, die schließlich der Startschuss für das Ende des Rechtsstaates war. Zugleich widmet er sich der historischen Aufarbeitung der Niederländisch-Deutschen Beziehungen während der Kriegs- und Nachkriegsjahre, deren Ressentiments teils in die Gegenwart reichen und auch 1966 in seiner eigenen Familie vorhanden waren.
Die historische Postkarte von Wiessee (noch ohne „Bad“) mit Quellenturm und Jodschwefelbad. Foto: Bad Wiessee, Gemeindearchiv
Lesetipp: 10 Streifzüge durch Bad Wiessee – Volk Verlag
Dass es mehr als ein Buch über die Geschichte des Jod-Schwefelbades, dessen Erbauer und sein Heilwasser-Imperium werden müsse, war Reinjan Mulder von Anfang an klar. Vielmehr sollte das Buch über das niederländische Jodschwefelbad an einem geschichtlich belasteten Ort in Deutschland eine klare Einordung schaffen. Und es sollte nicht nur Geschichtsinteressierte ansprechen, sondern verständlich und lesenswert für alle sein.
„Egodokument“ erlaubt Reflexionen
Deshalb hat sich der Autor auf eine sehr persönliche Suche in die Vergangenheit begeben und die literarische Form eines Selbstzeugnisses gewählt, das sogenannte „Egodokument“. Es erlaubt ihm aus der Sicht des Ich-Erzählers, Reflexionen zum Wandel der Zeit darzustellen. Literarisch-philosophisch macht er die komplexe Geschichte einer breiten Leserschaft leicht zugänglich.
Bad Wiessees rasanter Aufstieg zum renommierten Badeort. Historische Postkarte: Bad Wiessee, Gemeindearchiv.
Mulder ist ein Hüter der Erinnerung. Ihm ist ein feiner Humor zu Eigen, wenn er sich beispielsweise 2012 in seiner kleinen „Badezelle“ tief ins Schwefelwasser gleiten und – de profundis – das Wasser in den Mund rinnen lässt und über die Gründlichkeit der Deutschen nachsinnt. Oder schmunzelnd feststellt: „Während früher ‚Heil‘ und ‚Heilung‘ im Mittelpunkt standen, ist heute Wellness angesagt.“ Er ordnet Fakten und Rechercheergebnisse, vergleicht, spinnt Gedanken um Gedanken, folgt Spuren, wälzt Akten, Briefe, Baupläne, Chroniken. Schließlich schlägt er die Brücke zur Gegenwart, wo das Jod-Schwefelbad seit 2011 im Besitz der Gemeinde Bad Wiessee ist. Die literarische Klammer bilden alte Briefe auf dem Dachboden der Großmutter, einst 1966 aus dem Kurort nach Hause gesandt.
Das Jod-Schwefelbad aus dem Jahr 1922 kurz vor seinem Abriss. Foto: Gesundheitszentrum Jod-Schwefelbad GmbH
„Schwefelwasser“ ist ein wichtiges Zeugnis der Orts- und Regionalgeschichte für Bad Wiessee. Dass es ins Deutsche übersetzt wurde, ist der promovierten Literaturwissenschaftlerin Ingvild Richardsen zu verdanken, die bei ihren Recherchen zu den Tegernseer LiteraTouren (TELITO) in Bad Wiessee bei der Gemeindearchivarin Isabel Miecke von Reinjan Mulder und seinem Buch erfuhr. Die etwas modifizierte und mit großartigem Bildmaterial angereicherte deutsche Fassung, zu der sie auch das Nachwort schrieb, kommt heute in den Buchhandel.
„Jungbrunnen“ stärkt Immunsystem
Die Jungbrunnen-BERG-Studie belegte 2018, dass die stärksten Jod-Schwefelquellen Deutschlands in Bad Wiessee nachweislich das Immunsystem stärken. Im Juni dieses Jahres eröffnete das Jod-Schwefelbad nach langer Bauphase sein neues Badehaus nach Plänen des Architekten Matteo Thun – mit vier lichtdurchfluteten Atrien, in denen die Badenden in stilvoller Atmosphäre Körper und Geist stärken lassen können. Es wird heuer 110 Jahre alt.
Buchcover. Foto: Volk Verlag