Der Lebenskünstler und die Überlebenskünstlerin

„Es hat irgendwie zusammengepasst“: Siegfried Sibbe und Hyosook Moon in der „Galerie Moon“, in der ihre gemeinsame Ausstellung stattfand (im Hintergrund: „Miteinander – Das Boot ist voll“ von Hyosook Moon). Foto: IH

Ausstellung in Schliersee

Moon und Sibbe, das könnte der Name eines Künstlerduos sein. Doch auch, wenn dies auf Hyosook Moon und Siegfried Sibbe nicht zutrifft, kam es Ende diesen Sommers unverhofft zu einer gemeinsamen Ausstellung in Schliersee.

Es gibt Zufälle, die vielleicht keine sind. Zum Beispiel dieser: Nach 37 Jahren ohne Kunst entschließt sich der Schlierseer Maler Siegfried Sibbe im Jahr 2018 dazu, endlich wieder Kunst zu machen: Er nimmt den Pinsel in die Hand und widmet sich von da an ganz der Malerei. Im selben Jahr stößt die südkoreanische Bildhauerin Hyosook Moon, die seit 1987 in München lebt, auf einen leerstehenden Raum in Schliersee, der zur Zwischennutzung frei ist. Da sie bereits eine Werkstatt in München hat, nutzt sie die großen Räumlichkeiten der Karl-Haider-Straße 1 fortan als Galerie.

Wie es der launische Zufall will, sollte es aber noch sechs weitere Jahre dauern, bis sich die beiden über einen gemeinsamen Kontakt kennenlernen: 2024 kommt es zu einer Gemeinschaftsausstellung in der „Galerie Moon“ – und zu einem Interview mit mir.

Geschichten zweier Leben

Wer zwischen Juli und August durch die großen Fenster der „Galerie Moon“ geschaut hat, dem wird womöglich nicht auf den ersten Blick aufgefallen sein, dass die ausgestellten Objekte die Werke zweier Künstler waren; vielmehr hatte man den Eindruck, es sei das vielseitige Gesamtwerk einer einzigen Person. Oder wie Sibbe und Moon im Nachhinein, selbst immer noch erstaunt, über ihre gemeinsame „Spontanausstellung“ konstatieren: Es habe irgendwie zusammenpasst. Sibbes Werke „wirkten nicht fremd“ neben denen Moons. Das mag umso erstaunlicher sein, als die beiden sowohl einen völlig anderen Werdegang als auch eine ganz unterschiedliche Herangehensweise an die Kunst haben.

Moons Geschichte

Ursprünglich sei es die Verarbeitung von Holz gewesen, weshalb sie sich der Bildhauerei verschrieben habe. Aber als Hyosook Moon im 11. Semester ihres Kunststudiums in Seoul „eine Kupferplatte in die Hände gekriegt“ hatte, ließ sie dieses Material und die Arbeit damit, das Autogenschweißen, nicht mehr los. Diese körperlich fordernde Arbeit entspricht in gewisser Weise ihrem Lebensprinzip, denn sie sagt über sich: „Wenn ich ein Ziel vor Augen habe, erreiche ich das – mit Fleiß.“ Gefördert von ihrer damaligen Kunstlehrerin, kam sie auf die einst beste Privatschule in Seoul, anschließend machte sie das Diplom zur Bildhauerin.

Hyosook Moon vor ihrer Skulptur „Miteinander – Kopfzerbrecher“ (work in progress). Foto: IH

Dann zog es sie nach Deutschland, wo sie sich in München ein komplett neues Leben als freie Künstlerin aufzubauen suchte. Und mit Erfolg: Die südkoreanische Bildhauerin ging nicht unter im deutschen Meer der Kunst, das nicht selten ein Haifischbecken ist; ihre Werke wurden ausgestellt, unter anderem im Haus der Kunst in München. Bis sie eines Tages zeitweise nach Seoul zurückkehrte, wo sie als Dozentin an eine angesehene Kunsthochschule berufen wurde.

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Was sie in ihrem Leben auch über schwierigere Zeiten hinweggetragen habe, sei immer die Kunst gewesen. Schon ihre damals 15-jährige Tochter erkannte das, als sie zu ihrer Mutter sagte: „Für dich ist Kunstmachen wie Atmen.“

Sibbes Geschichte

„Ich bin kein ‚gelernter Künstler‘ wie die Moon,“, setzt Sibbe in aller Bescheidenheit an, mir seinen künstlerischen Werdegang zu erläutern, „meine Ausbildung ist das Leben.“ Das leuchtet mir ein, da ich ohnehin der Überzeugung bin, dass man als Künstler ist, wer man als Mensch ist. Er pflichtet mir bei: „Entscheidend ist der Mensch.“ Doch dass er auch ohne künstlerische Ausbildung schon immer ein Künstler gewesen ist, noch dazu ein äußerst begabter, davon zeugen bereits seine frühesten Arbeiten.

Dennoch entschied er sich mit Anfang 20 dagegen, die Kunst zum Beruf zu machen, und das, obwohl er – ganz das enfant terrible in dörflicher Gemeinde – zuvor die Schule abgebrochen hatte, in dem hoffnungsfrohen Vorhaben, alles auf die Kunst zu setzen. Wenn ihm dann später ehemalige Klassenkameraden über den Weg liefen und von dem seinerzeit talentierten Zeichner wissen wollten, was denn die Kunst mache, so habe er immer geantwortet: „Erst die Vita… dann die Kunst!“

Siegfried Sibbe vor seinem Bild „Titellos“ (2024). Foto: IH

Das ist seine Devise, die ihn die letzten 37 Jahre begleitete, Jahrzehnte, in denen er hart arbeitete, und der Kunst nie die nötige Aufmerksamkeit schenken konnte. Denn für diesen Künstler, das begreife ich allmählich, während ich seiner Lebensgeschichte lausche, war die Kunst immer eine Frage von Entweder-ganz-oder-gar nicht.

So eigenwillig wie sein Leben, so eigenwillig sind die Materialien, denen er sich beim Malen bedient: Er malt auf Küchenrollen, auf Tapete, auf Zeitungspapier, auf Karton… „Ich male alles nieder!“, lacht Sibbe. Seit einem Monat malt er nun zum ersten Mal in seinem Leben auf Leinwand.

Und zwischen den Geschichten?

Während des Interviews werde ich Zeugin dessen, wie diese beiden noch so verschiedenen Künstler einander gleichermaßen Respekt zollen, in dem, wie aufmerksam sie einander zuhören, wie wohlwollend sie aufeinander reagieren. Dieser Atmosphäre ist es wohl zu verdanken, dass nebenbei ein schönes Wortspiel entsteht, dem es gelingt, die beiden unterschiedlichen Leben unter einen Hut zu bringen. „Du bist ein Lebenskünstler“, sagt Moon zu Sibbe, nachdem er uns seine Geschichte erzählt hat. Und nach kurzem Innehalten: „…und ich bin eine Überlebenskünstlerin.“

Miteinander – Kontinente“ (work in progress) von Hyosook Moon, ausgestellt in der „Galerie Moon“ in Schliersee. Foto: IH

Neuland

„Für mich ist das alles im Grunde Neuland“, sagt Siegfried Sibbe, der wie Hyosook Moon Anfang 60 ist, in seiner Jugend ausschließlich zeichnete und erst seit einigen Jahren malt. „Für mich doch im Grunde auch“, erwidert sie, „ich bin doch auch immer in einem neuen Prozess“. Deshalb seien auch viele ihrer Arbeiten, selbst diejenigen, die sie öffentlich ausstellt, nie wirklich fertig. „Es kann sein, dass ich 20 Jahre später an einer Arbeit weiterarbeite. Man muss den Prozess stoppen und offenlassen.“ Für Sibbe dagegen ist es eher ein „gesteuerter Zufall“, dem er sich beim Malen hingibt. Wobei er auslässt, dass natürlich er selbst es ist, der den Zufall zu steuern versteht.

Detailaufnahme von Siegfried Sibbes großformatigem Bild „Namenlos“ (2024). Das Bild wird, neben vielen weiteren, am 10.10.24 bei Sibbes Soloausstellung in Schliersee gezeigt (mehr Infos: s.u. blauer Kasten). Foto: IH

Eine letzte Frage noch

So wie der antike Abenteurer am Anfang seiner Reise das Orakel befragt, will ich am Ende des Interviews von den beiden noch erfahren, warum die Welt Kunst braucht. Zu meiner eigenen Überraschung nehmen sie beide diese durchaus naive Frage auf Anhieb ernst, schweigen, denken darüber nach. Moon ergreift zuerst das Wort, und doch sucht sie noch nach den richtigen Worten, während sie spricht. „Weil Kunst kein Nahrungsmittel ist, bei dem es offensichtlich ist, dass man es braucht. Kunst ist eher so etwas wie Blumen, die man ja auch kauft, obwohl man sie nicht essen kann… Also etwas für die Seele, nicht für den Körper.“

Sibbe gibt mir eine ganz andere, wesentlich kürzere, aber ebenso berührend zaghafte Antwort. „Weil die Welt ohne Kunst vielleicht noch schlimmer wär‘…“ Später allerdings, als wir uns eigentlich schon voneinander verabschiedet haben, wird er mir noch eine zweite Antwort auf meine große Frage mitgeben; scheinbar hat sie ihn weiterhin beschäftigt. „Du, Isabella. Wir brauchen Kunst auch, weil Kunst Menschen zusammenbringt. So, wie jetzt die Moon und mich.“

Die öffentliche Vernissage der Soloausstellung von Siegfried Sibbe findet am 10.10.2024 zwischen 15 und 20 Uhr in der Bahnhofstr. 5, 83727 Schliersee statt. Die „Galerie Moon“ ist bei Interesse jederzeit zu besichtigen, Voranmeldung möglich unter 0171-2962278 (Herr Fürholzer).

 

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