Dort, wo zweibeinige Karotten willkommen sind
Von Hummeln bestäubte Tomaten. Foto: Karin Sommer
Landwirtschaftliche Führung in Steinbach, Lenggries
Was können wir tun, damit zwei Zentimeter zu lange Zucchini nicht am Komposthaufen landen, weil sie nicht einmal von Bioläden akzeptiert werden? Biotop – ein solidarisches Landwirtschaftsprojekt in Lenggries – zeigt auf, wie ein Miteinander für Mensch und Natur funktionieren kann.
Sebastian Girmann ist möglicherweise mit dem grünen Daumen auf die Welt gekommen. Er studierte Gartenbau und arbeitete danach drei Jahre in einer Gärtnerei, „weil das Studium dann doch recht theoretisch war.“ An sein Schlüsselerlebnis, das ihn zum Umdenken bewegte, erinnert er sich noch heute. Wegen des sonnigen Wetters waren die Pflanzen in zwei Tagen um zwei Zentimeter zu viel gewachsen, weshalb Sebastian Girmann zwei Schubkarren voller frischer Pflanzen direkt auf den Komposthaufen führen musste. Nicht einmal Bioläden akzeptieren Gemüse, das aus der Norm fällt, weil es vom Kunden nicht gekauft wird.
Es wird nichts verkauft
Aufgrund dieses frustrierenden Erlebnisses begann Sebastian Girmann mit der Recherche von Projekten, die sich der solidarischen Landwirtschaft verschrieben haben. Die Idee ist einfach – Menschen schließen sich zusammen, finanzieren ein Landwirtschaftsprojekt gemeinsam und teilen sich den Ertrag. Kein Verkauf, kein durch den herrschenden Markt erzwungenes Wachstum. Und somit haben auch zweibeinige Karotten ihren festen Platz im Sortiment.
Christof Langer vom KBW im Gespräch mit Sebastian Girmann. Foto: Karin Sommer
Ein Pilotprojekt überzeugt
Weil die guten Dinge selten im Alleingang passieren, schloss sich Sebastian Girmann mit vier Freunden zusammen, die aus verschiedenen Branchen kamen. Er startete mit ihnen das Pilotprojekt auf einer kleinen gemieteten Fläche. Werkzeuge und Maschinen wurden von der Gärtnerei geliehen und es ging los. Nach einem halben Jahr stellten sie das Projekt vor und von den 120 Interessenten entschlossen sich 80 dafür, Mitglieder der gegründeten Genossenschaft zu werden.
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Nur vier Jahre später sind es 400 Mitglieder, die sich an der wöchentlichen Gemüsekiste, dem Ertrag ihrer Gemeinschaft freuen. Bis jetzt waren es gute Jahre. Aber sollte das einmal nicht so sein, wird das Risiko von allen Beteiligten getragen, indem die Gemüsekisten spärlicher bestückt ausgeliefert werden.
„Anders wachsen“ besucht innovative Betriebe
In der Reihe Anders wachsen besucht Christof Langer, Bildungsreferent unseres Kooperationspartners Katholisches Bildungswerk Miesbach außergewöhnliche Betriebe wie dieses solidarische Landwirtschaftsprojekt. Solche, die zeigen, dass eine gerechtere und nachhaltige Wirtschaft keine Utopie, sondern eine dringend nötige Wirklichkeit ist.
Üppiges Wachstum ohne Kunstdünger und Pestizide. Foto: Karin Sommer
Die Besucher des „Biotops“ waren sichtlich beeindruckt. Zwischen noch grünen Tomaten und leuchtend rot-gelbem Mangold erfuhren sie, dass das solidarische Landwirtschaftsprojekt schon bald nach seiner Gründung aus allen Nähten geplatzt war. Mit einem durchdachten Plan überzeugten Sebastian Girmann und sein Team die Genossenschaftsmitglieder von einer größeren Investition. Mehr Land wurde angemietet, ein Gewächshaus erbaut. Dann errichtete der Bauer Sepp Heiß auch noch das Betriebsgebäude genau nach den Wünschen der Genossenschaftsmitglieder. Ein Erdkeller, der mit Passiv-Belüftung das Gemüse so frisch hält wie ein energiefressendes Kühlhaus, garantiert, dass es auch im April noch gelagerte Karotten zu verspeisen gibt.
Blühstreifen im Herbst stehenlassen
Auf dem zwei Hektar großem Land gibt es neben dem Freiland und dem Gewächshaus auch noch einen Bereich, in dem Mitglieder im eigenen Garten arbeiten und ernten können, einen Festplatz zum Grillen und Feiern und viele Blühstreifen. Dass manche Blühstreifen vier Jahre lang stehengelassen werden, weil sie zum Überwintern der Insekten dienen, war einer der vielen kleinen Weisheiten, die Sebastian Girmann seinen Besuchern mit nach Hause gab.
Blühstreifen für Bodengesundheit und Insekten. Foto: Karin Sommer
Die Gartenliebhaber wissen jetzt auch, dass mit Wasser verdünnte Rohmilch gegen den gefürchteten Mehltau auf Gurken hilft und dass es reicht, nur Jungpflanzen zu gießen. Alle anderen müssen mit der Witterung klarkommen. Sonst werden sie verwöhnt und gehen zugrunde, wenn sie zwei Tage nicht gegossen werden. Wer glaubte, dass regionales Gemüse eintönig wäre, wurde eines Besseren belehrt: Bis zu acht verschiedene Sorten schmücken die wöchentlichen Gemüsekisten, sogar im Winter sind es sechs.
Begrenztes Wachstum
Wer nun Lust bekommen hat, bei einem so zukunftsträchtigen Projekt mitzumachen, muss sich beeilen: Nur mehr bis Ende des Jahres haben Interessierte die Chance, einzusteigen. Wenn die Zahl von 450 Mitgliedern erreicht ist, ziehen Sebastian Girmann und sein Team die Bremse. Das Ziel des Biotops ist eine unabhängige, selbstverwaltete und gemeinwohlorientierte Versorgungsstruktur im Oberland. Die gemeinschaftsgetragene Landwirtschaft ist nur der erste Schritt. Das Oberland freut sich auf alle weiteren Schritte dieses innovativen Projektes.