Solidarität muss durch das Nadelöhr des Ich gehen
Die ORF-Journalisten Reinhard Linke und Martin Haidinger. Foto: MZ
Lesung der Waldviertler Akademie in Waidhofen/Thaya
Solidarität war einst ein starkes Wort. Vergleichbar mit der Parole „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Die beiden ORF-Journalisten Martin Haidinger und Reinhard Linke regten mit Texten von Denkern unterschiedlicher Coleur zum Thema zum eigenen Nachdenken an.
Wie wird unsere Krisenzeit die Gesellschaft verändern? Zum Positiven oder zum Negativen? Wird Solidarität dabei helfen, die Gesellschaft vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren? Die Schere zwischen Arm und Reich wird schon jetzt immer größer. „Ist die Solidarität kraftlos geworden?“ fragten die beiden Journalisten.
Angebot Europas an die Welt
Die Waldviertler Akademie hatte für die diesjährigen Internationalen Sommergespräche das Thema „Solidarität“ gewählt, in dessen Rahmen die Lesung der beiden ORF-Journalisten im Theater an der Mauer in Waidhofen an der Thaya stattfand.
„Nichts wird so bleiben wie es war“ zitierte eingangs Martin Haidinger den Titel eines Buches von Ulrike Guérot, in dem die Autorin die Frage stellt: Was kommt nach der Krise? Wird Europa dem standhalten? Freiheit und Gleichheit strebten auseinander, dem müsse eine Gleichfreiheit entgegengesetzt werden und das müsse das Angebot Europas an die Welt sein, dass der Saturiertheit der Menschen entgegenwirkt.
Verzicht als Befreiung
Der bekannte Zukunftsforscher Matthias Horx schrieb „Die Zukunft nach Corona“, woraus Reinhard Linke las. Der Kontrollverlust in der Pandemie müsse durch eine innere Wirksamkeit, durch Selbstfürsorge sowie Sorge für andere ausgeglichen werden, schreibt der Gründer des Zukunftsinstituts. Eine Konzentration auf das Wesentliche sei sehr heilsam, man müsse die Langsamkeit und Stille schätzen lernen und den Verzicht als Befreiung empfinden.
Erzeugt die Krise Solidarität?
Was macht die Krise mit uns? Das war eine entscheidende Frage der Lesung. Bringt sie die gewünschte und erhoffte Solidarität? Die verschiedenen Autoren aus Psychologie, Politik, Religion habe dafür unterschiedliche Antworten. Eine Antwort ergibt sich aus einer Studie, aus der hervorgeht, dass die gegen die Pandemie widerstandsfähigsten Gesellschaften diejenigen sind, die solidarische Institutionen haben.
Die ORF-Journalisten Reinhard Linke und Martin Haidinger. Foto: MZ
Auch den Verschwörungstheoretikern widmeten die beiden Journalisten einige Texte und entlarvten dabei die abstrusen Ideologien, nach denen Eliten und Pharmakonzerne eine Weltherrschaft anstreben würden.
Rechte und Pflichten
Heidi Kastner ist Expertin für Forensische Psychiatrie und hat ein Buch „Dummheit“ geschrieben. Daraus zitierte Martin Haidinger: „Die fundamentale Dummheit besteht in der Verweigerung der Tatsache, dass Leben nur in begrenzter Freiheit möglich ist.“ Freiheit gebe es nur, wenn bestimmte Werte anerkannt werden und man dadurch auf Teile der persönlichen Freiheit zugunsten der Freiheit anderer verzichte. Autonomie bedeute nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten.
„Wie wir nicht sind“
Osama Abu El Hosna rettete in einer Terrornacht in Wien einem Polizisten das Leben und schrieb das Buch „Wie wir nicht sind“. Darin ruft er auf, sich gegen Vorurteile zu wehren, keine Angst zu haben, stattdessen die Nähe zu suchen. Er sei es leid, immer wieder beweisen zu müssen, dass „wir nicht so sind“.
In seinem Buch „Solidarität: Die Zukunft einer großen Idee“ schreibt Heinz Bude den Satz: „Die Solidarität muss durch das Nadelöhr des Ich gehen.“ Die Motive der Solidarität seien Verwundbarkeit und Großzügigkeit, denn man dürfe nicht hoffen, dass man alles, was man gebe, zurückbekomme. Und der Autor konstatiert, dass Solidarität ein Vertrauen in die Welt bedeute.
Wir brauchen Fantasie
Fantasie sei es, was wir brauchen, um eine neue Welt zu erschaffen, sagt der Benediktinermönch Anselm Grün und erinnert an die große Vision des Weltethos von Hans Küng, nach der man sich auf die gemeinsamen Werte der Religionen besinnen und deren Friedenspotenzial erkennen müsse. Unerhofftes erhoffen, das sei der von Heraklit gewiesene Weg.
Dass finanzielle Anreize und Wettbewerb nicht die Lösung der Probleme sind, konstatiert auch der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty. Stattdessen gehe es um Menschlichkeit und Solidarität.
Konstantin Wecker. Foto: Christoph Well
Die Lesung schloss mit Zitaten von Konstantin Wecker. In seinem Buch „Poesie und Widerstand“ ruft er zu einer Kultur der Hoffnung auf. Die Pandemie sei ein Portal von einer Welt in die andere, in eine andere Gesellschaft. Dafür sei Kunst und Kultur wichtig, sie habe in allen Zeiten die Menschen zur Besinnung gebracht, die Wirklichkeit zu erkennen. „Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.“
Die Waidhofener Sängerin Marlene Zimmerl begleitete die Veranstaltung musikalisch.