Generationenkonflikt im Internetzeitalter
Sonntagskolumne: 50 plus – sind nicht wir die wahren digital natives?
Menschen im digitalen Zeitalter – „Ureinwohner“ versus „Immigranten“. Die Netzkultur unterteilt die Gesellschaft scheinbar in zwei Klassen. Das Problem: Die Aufteilung passt nicht immer – schon gar nicht für die Generation, die das Internet begründet hat.
Digital natives bei der Arbeit: Ein Video drehen, bearbeiten und hochladen gehört zu den einfachsten Übungen. Foto: Anja Gild
Digital native? Digital immigrant? Digital was? Die einen sind mit den digitalen Medien, Computer und Internet aufgewachsen – die anderen haben die digitale Welt erst im Erwachsenenalter kennengelernt. So unterscheidet ein Artikel auf Wikipedia die Welten der „digitalen Ureinwohner“, geboren ab 1980, und der vorhergehenden Generation(en). Und schon sind wir mittendrin in der Netzkultur.
Ich bin gerade 50 geworden, bin 13 Jahre vor der digital-native-Generation geboren und gehöre ab jetzt streng genommen zur Gruppe der sogenannten silver surfer. Mit Silberfäden im Haar oder schon total ergraut bin ich Teil der Generation, die proportional im Netz am stärksten wächst (www.ard-zdf-onlinestudie.de) und über die größte Kaufkraft im Internet verfügen. Hauptzielgruppe des Internet-Marketing-Sektors.
Ich bin also ein digital immigrant und silver surfer. Mit Verlaub: Ich fühle mich klassifiziert, diskriminiert und völlig falsch einsortiert. Warum? Lesen Sie weiter.
Szenenwechsel. Unterricht an einer Modeakademie irgendwo in Deutschland. Die Dozentin ist eine Silver-Surferin, die StudentInnen um die 20 Jahre alt und damit digital natives. Zur Einführung in die Onlinewelt ein Ratespiel rund um zentrale Begriffe. SEO? Keine Ahnung. PI? Keine Ahnung. Impressumspflicht? Keine Ahnung. PDF in Langform? Keine Ahnung. JPG? Keine Ahnung. Twitter – von 20 haben zwei einen Account, eine Person nutzt den Kurznachrichtendienst aktiv. Instagram? Alle sind dabei. Facebook, Snapchat sowieso. Selfies machen, posten, Programme installieren, Spiele downloaden, Videos drehen, schneiden, auf Youtube hochladen und über Abonnenten Geld verdienen – alles kein Problem. Aber wenn es um den Hintergrund, die Geschichte, die Chancen, die Risiken und das Denken geht – also alles, was Netzkultur wirksam prägt: Da herrscht oft Düsternis oder Wirrnis in den jungen Köpfen. Es ist, als ob die digitalen Ureinwohner im Mediendschungel intuitiv wissen, an welchem Baum die besten Früchte hängen – aber wenn es um Herkunft, Name, Verbreitung und Anbau geht, kann man meist nur auf die Leertaste drücken.
Facebook, Instagram und Snapchat sind die drei führenden Sozialen Medien bei den jungen Internetnutzern. Foto: Anja Gild
Digital immigrant? Ich? Meine Generation war von Anfang an dabei, hat den Umbruch in der Medien- und Kommunikationswelt live miterlebt. Wir haben die ersten Webseiten layoutet und mit Inhalten befüllt. Haben experimentiert und sind gescheitert. Haben um Freiheit und Kontrolle im Netz diskutiert und gekämpft. Wir waren die Ersten im New-Media-Zeitalter und sind immer noch mittendrin. Wir, die silver surfer, schauen mit wissenden, erfahrenen, begeisterten und kritischen Augen auf eine Medienrevolution, wie es sie seit der Erfindung des Buchdrucks nicht gab. Wir also sind die „digital immigrants“? Das kann doch nur ein Irrtum in der modernen Kulturgeschichte sein. 50 plus – eigentlich sind wir die digital natives, die Ureinwohner, die schon immer im digitalen Zeitalter unterwegs waren.
Hier soll nicht der wissenschaftliche Diskurs auf den Kopf gestellt werden. Suchen wir lieber nach einem neuen Begriff, für alle diejenigen, die vor 1980 geboren wurden und digitale Pionierleistungen vollbracht haben. Ups, da ist er ja, der Begriff: Digital Pioneers! Ja, dieser Begriff umschreibt mein Lebensgefühl. Leider gibt es bei Wikipedia keinen Artikel dazu. Höchste Zeit, eine ganze Generation – die vor 1980 geborenen – neu zu titulieren und einen Artikel über die wahren Kenner des digitalen Zeitalters, die wahren digital natives, zu schreiben.