Schreiben

Wirklichkeit überholt Fiktion: Hört auf zu schreiben! Schreibt!

Beim Schreiben. Foto: Isabella Krobisch

Sonntagskolumne

In unserer Sonntagskolumne fragt die Schriftstellerin Gesina Stärz, ob es sich in der heutigen Zeit überhaupt noch lohnt zu schreiben, wenn die Wirklichkeit die Fiktion überholt. Ihre Antwort ein Aufruf: Schreibt, was das Zeug hält, denn geschriebene Geschichten verändern die Welt. Am Ende hält sie eine Überraschung parat.

Zu jeder Krise gibt es die passende Literatur. Pandemic, ein Thriller zur Corona-Krise von Severin Schwendener, Blackout, ein Thriller zu Cyberterror von Marc Elsberg, Der Schwarm, ein Thriller zum Weltuntergang von Franz Schätzing und tausende mehr von der Art. Noch im 20. Jahrhundert galten fiktive Zukunftsszenarien zum Zeitpunkt des Erscheinens als fiktiv im Sinne von schwer vorstellbar, dass sie in ferner Zukunft Realität würden, wie Georg Orwells Roman 1984, der 1949 erschien. Die Visionen von Leonardo da Vinci brauchten gar 500 Jahre, bis sie in der Wirklichkeit landeten. In seinem Codex Atlanticus, der größten erhaltenen Schriftensammlung von Leonardo, finden sich Texte, die der Meister selbst „Profetie“ nannte. Wenn er Sätze wie: „Etwas aus der Erde, das mit seinem Atem Städte zerstören wird.“ schreibt, scheint er eine diffuse Vorstellung von den Selbstzerstörungskräften der Menschheit infolge von technischen Entwicklungen gehabt zu haben, wie von ansteigenden Meeresspiegelen, Atombomben, Freisetzung von Methangas und Autos. Heute müssen Schriftstellerinnen und Schriftsteller noch während sie an einem Thriller-Szenario zu einer Finanz-, Klima- Pandemiekrise arbeiten, feststellen, dass die Wirklichkeit sie überrollt. Kaum hat der Thrillerautor den Plot für eine Corona-Pandemie geschrieben. Schwupps ist sie vor Erscheinungstermin des Buches auch schon da. Halleluja!

Die Wirklichkeit überholt die Fiktion

Überall. Weltweit. Analog. Digital. Und das nicht erst seit Donald Trump. Keine Frage. Das liegt an den Autoren und Autorinnen. Das liegt an ihrer Fantasie. Sie stellen mit ihren Geschichten Visionen in den Raum. Kaum ist ein Bild im Geist erstellt, schon erfüllt es sich in der Wirklichkeit. Die Halbwertzeit zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist geschrumpft. Quasi nicht vorhanden. Schnell, bevor die Krise ausgestanden und die nächste naht, noch ein Buch auf den Markt. Trotzdem!

Hört auf zu schreiben!

Krisenliteratur – Thriller, Krimis, Katastrophendrehbücher. Das ist kein Spaß mehr, keine Fiktion, in die man abtauchen kann, wenn die Wirklichkeit nicht auszuhalten ist. Nein. In der Wirklichkeit ist längst angekommen, was in Büchern als Fiktion entworfen und als sogenannte Spannungsliteratur weltweit ein Millionenpublikum erreicht. Als 2001 in die Tower des World Trade Center in New York zwei Flugzeuge rasten, erschien mir die Wirklichkeit so unerträglich, dass ich mich in Stephen Kings Mamutwerk „Es“ vertiefte. Ich suchte Trost in der Fiktion, eben weil die Fiktion Fiktion ist. Und heute? Offensichtlich strudeln wir im Hier und Jetzt der Ereignisse, die uns die Nachrichten im Sekundentakt auf unsere Tablets, Smartphones, Laptops liefern, von einem Real-Live-Thriller zum nächsten. Live-Blog zur US-Präsidentschaftswahl, so spannend wie ein Krimi, wie eine Tageszeitung warb. Live-Blog zur Corona Krise. Live-Blogs, statt die üblichen Rubriken, wie Kultur, Politik, Ausland in den Tageszeitungen. Fehlt noch der Live-Blog Klimakrise oder sollte man den gleich Live-Blog Weltuntergang nennen. Nicht zu vergessen die Rubrik True Crime, als Podcast, als Magazin. Die Wirklichkeit überflutet die Fiktion mit steigenden Meeresspiegeln, unerträglich heißen Temperaturen, Gletscherschmelzen, Hurrikans. 2004, in einer Zeit, da sich die ersten Social Media Plattformen, wie MySpace Friendster versuchten zu behaupten, diagnostizierte die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen in ihrem Essay „Idole und ihre Mörder“, dass in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bereits der Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit verlorengegangen ist. Mark David Chapman, der Mörder von John Lennon, hielt sich für Holden Caulfield, den Helden aus The Catcher in the Rye von J.D. Salinger und John Lennon für eine Legende, ein Idol, einen Gott. Stattdessen: Blut. Schmerz. Leid. Das Echte.

Künstler, Literaten, Visionäre, wir alle sind Schöpfer, wenn wir unsere inneren Bilder in den Raum stellen, in den digitalen via social media, in den analogen als Kunst oder Literatur. Wir holen unsere Gedanken ans Licht in Form von Bildern, Geschichten. Damit sind sie in der Welt und landen irgendwann in der Wirklichkeit.

Innere Bilder haben Menschen von jeher genutzt, um die äußere Welt zu gestalten, führt der Neurowissenschaftler Gerald Hüther in seinem 2004 erschienen Band Die Macht der inneren Bilder aus. Visionen, innere Bilder, Fiktionen gehen der Weltgestaltung voraus. Wir kommen nicht aus. Ergo:

Schreibt! Alles muss raus!

Autobiographisch. Biographisch. Erzählt Geschichten von euch, von anderen. Die Menschen gieren nach Geschichten. Echt oder unecht. Wahr oder erfunden. Egal. Schreibt, was das Zeug hält. Alles muss raus. Erzählt wie wir zurechtkommen in dieser Welt. Erzählt von Grenzerfahrungen. Abgründen. Von den Kräften des Lebens. Erzählt. Schreibt, was das Zeug hält. Alles muss raus. Jetzt! Jeder noch so tiefe Abgrund. Über jede noch so große kleine Liebe. Gedanken, sind sie einmal ausgesprochen, Ideen, Geschichten, real oder fiktiv verändern die Welt. Verändern uns. Es wurde noch nie so viel geschrieben, wie in unserer Zeit. Es wurden noch nie so viele Gedanken, so viel Wut, so viel Hass in Worte gehievt, auf Screens für immer in Bits eingebrannt und in die Welt geschrien. In immer kürzeren Sätzen. In immer größerer Geschwindigkeit. Schreibt alle. Verdammt nochmal jeder, hat eine Stimme. Erhebt sie. Lasst die Worte, die Geschichten aus dem mentalen Raum eures Gehirns in den digitalen Raum fließen. Immer schneller. Immer lauter. Sie kreisen im Universum. Nehmen an Fahrt auf. Rasen in Lichtgeschwindigkeit auf das schwarze Loch zu. Worte, Geschichten sind materialisierter Geist. Alle Materie wird verschlungen. Immer schneller und schneller.

Hört auf zu schreiben! Alle! Für einen Tag. Für eine Woche. Für einen Monat. Für ein Jahr. Kein Wort. Schweigt. Haltet die Welt an. Für einen Moment. Reset. Zählt bis zehn. Und dann zählt noch einmal bis zehn und noch einmal und noch einmal und … Seid still. Stumm. Schweigt! Neustart! Die neue Zeit! Neu denken: Worüber lässt sich dann noch schreiben …

Die Schriftstellerin Gesina Stärz beschäftigt sich mit Figuren, die aus der bürgerlichen Mitte aufgrund ihrer sich ändernden Lebensumstände herausfallen – ins Bodenlose. Ihre Romane erscheinen im Verlag Edition 8 in Zürich, zuletzt, im Frühjahr 2020, der Roman „vielleicht leicht“ in dem es um die literarische Dokumentation einer existenziellen Grenzsituation in einem Pflegeheim geht und die Protagonistin, einst bekannte Anwältin, zum Objekt von Behandlungspflege wird. Es geht um die Frage nach selbstbestimmten Sterben. Sie ist als Dozentin für Prosaschreiben und autobiographisches Schreiben an der Textmanufaktur von André Hille tätig.
Romane: „kalkweiß“ (2011), „Die Verfolgerin“ (2013), „leben, überwiegend glücklich“ (2014), „vielleicht leicht“ (2020).

Gefällt Ihnen dieser Beitrag? Bitte besuchen Sie uns auf