Ein Plädoyer für die Sorgfalt
Sorgfältig aufgeschichtete Steine, nach Größe sortiert. Foto: MZ
Sonntagskolumne
In Zeiten des immer schneller – immer mehr – immer größer – immer lauter gerät die Tugend der Sorgfalt ein wenig in Vergessenheit, aber nicht bei jedem und nicht überall. Sie hat, auch wenn sie altmodisch anmutet, eine wichtige Funktion.
Vor Jahren las ich Ende August, so wie jetzt, „Der Nachsommer“ von Adalbert Stifter. Das etwa 150 Jahre alte Buch braucht Zeit, ist 800 Seiten stark und hat nur wenig Handlung und keinerlei Spannung oder gar Action. Was mich daran faszinierte, ist die detaillierte Beschreibung eines idealisierten Landlebens, die Sorgfalt, mit der der Gutsherr seinen Hof versorgt. Der Ich-Erzähler lernt von ihm, dass innere Ordnung zu äußerer Ordnung und damit zu Sicherheit führt. Es ist ein Entwicklungsroman, in dem auch der Erzähler sich in Sorgfalt, insbesondere der Kunst und des Handwerks übt.
Nachsommer von Adalbert Stifter. Foto: MZ
Immer, wenn ich meinen Nachbarn bei seiner landwirtschaftlichen Arbeit sehe, denke ich an den „Nachsommer“. Natürlich benutzt er Geräte und Maschinen, aber wenn er maschinell gemäht hat, steigt er vom Traktor und arbeitet mit dem Rechen nach. Da bleibt kein Halm liegen. Ob sich das wirtschaftlich auszahlt, bleibt dahingestellt, es ist eine Haltung.
Schon die Altbäuerin kam täglich mit dem Rechen. In blauer Kittelschürze und mit Kopftuch stand sie bei sengender Hitze mittags auf dem Acker und rechte Gras zusammen. Bis ins hohe Alter arbeitete sie und war ein zufriedener und ausgeglichener Mensch. Innere und äußere Ordnung.
Vielleicht bedingen sich beide. Innere führt zu äußerer Ordnung und umgekehrt. Welche innere Freude bereitet es doch, wenn der Holzstapel ordentlich aufgeschichtet oder das Beet gründlich von Unkraut befreit ist, wenn die Marmeladengläser in Reih und Glied in der Speis stehen.
Marmelade in der Speis. Foto: MZ
Mein Nachbar schichtet die Steine, die alljährlich beim Pflügen und Eggen hervorkommen, auf. Manche wie eine Mauer, manche nach Größe sortiert. Einen eigentlichen Nutzen kann ich darin nicht erkennen, aber muss alles einen Nutzen haben? Ihm bereitet es offensichtlich Freude, wenn er diese Steinhaufen aufschichtet und diese Freude strahlt er auf seine Umgebung aus. Ich plaudere gern mit ihm und lasse mich von seiner Hingabe zur Arbeit und zur Natur anstecken.
Aufgeschichtet statt hingeworfen. Foto: MZ
Bei einem Gespräch erfahre ich auch, dass die Größensortierung schon einen Nutzen hat, die großen Steine werden zum Bauen verwendet, die kleinen für Drainagen und die mittleren für alles andere, was am Hof auszubessern ist.
Lisa Mayerhofers Kunst – mit Sorgfalt
Wenn ich an Sorgfalt denke, denn fällt mir auch sofort Lisa Mayerhofer ein. Die Miesbacher Künstlerin fertigt ihre Werke mit äußerster Sorgfalt. Wer ihr bei den Offenen Ateliertagen zuschauen konnte, bekam einen Eindruck davon, wie präzise sie ihre Materialien anordnet. Ganz kleine Samenkörner ebenso wie große Gabeln.
Lisa Mayerhofer: „Wettrüsten“ bei der gmundart 2024. Foto: MZ
Eine beeindruckende Präsentation der Gabeln zeigte Lisa Mayerhofer beim Thementag „Zeit“ von KulturVision und bei der gmundart. Jetzt ist sie von der Künstlervereinigung Lenggries zur 20. Kunstwoche in die Prinz-Carl-Kaserne eingeladen worden und zeigt dort ab 6. September eine große Installation, zu der sie sehr sorgfältig Gabeln verlegt hat.
Dass Wissenschaft Sorgfalt erfordert, ist eine Binsenweisheit. Im Wege indes steht der Zwang zu veröffentlichen, zu papern, wie es in Insiderkreisen heißt. Ein echter Wissenschaftler aber wird sich nicht hinreißen lassen, etwas hinauszuschicken, was er nicht mehrfach sorgfältig verifiziert hat.
Sorgfalt also allerorten, ob im häuslichen Bereich, der Landwirtschaft, der Kunst und in der Wissenschaft. Sorgfalt macht glücklich, sie braucht Zeit und Geduld und das Ergebnis muss nicht zwingend wirtschaftlichen Erfolg bedeuten, aber es trägt zur Reife bei und strahlt auf die Umgebung aus.