Talgeschichte(n) – eine Historie des Leitzachtales
Cover des Buches „Talgeschichte(n)“.
Neuerscheinung auf dem Buchmarkt
Anfang des Jahres ist das Buch von Andreas Estner erschienen. Der BR-Rundfunkjournalist aus Fischbachau hat eine Kulturgeschichte seiner Heimat verfasst und schildert auf mehr als 552 Seiten die Entwicklung des kleinen Bergtales bis zum Jahr 1960.
„Talgeschichte(n) – Kultur, Historie und Lebensart im oberen Leitzachtal“ so nennt Andreas Estner sein Buch, in dem er zum einen seine starke Zugehörigkeit zur Region dokumentiert, andererseits aber auch mit einer Außenansicht auf das Tal schaut.
„Ich habe in München und Frankfurt studiert“, sagt Andreas Estner. Er habe festgestellt, dass die Kultur seiner Heimat im Leitzachtal unglaublich bunt, prächtig und farbenfroh sei. Die Strukturierung des Jahres durch die Festtage sei etwas unglaublich Schönes und Identität Stiftendes. „Das ist ein Anker für die Heranwachsenden“, konstatiert der Autor.
Autor Andreas Estner. Foto: privat
Andreas Estner ist seit fünf Jahren Rundfunkjournalist bei BR Heimat und war vorher in der Nachrichtenredaktion von BR 1. Sein Buch hat er nach vielen spannenden Themen geordnet:
Es zeigt die Bilder der ersten Trachtenmaler, die um 1820 ins Oberland wanderten, die Entwicklung von Frauen- und Männertracht und die Gründung der zwei ersten Trachtenerhaltungsvereine 1883 in Bayrischzell und Fischbachau. Dazu beleuchtet das Buch seltene und vergessene Bräuche wie den Kuchlwagentag, das Zuntltragen an Ostern, mit dem das geweihte Feuer von Haus zu Haus getragen wird, das Haberfeldtreiben, die Bettelhochzeiten, das Weisertzopffahren und den ganzen Tagesablauf einer traditionellen Bauernhochzeit im Leitzachtal: das laute Aufwecken der Brautleute in der Früh, die Morgensuppe, den Gottesdienst samt Weingang, den Hungertanz, das ausgelassene Feiern in der Weinstube, den Abdank des Hochzeitsladers und schließlich das Ehren der Brautleute und die Ehrtänze.
Darüber hinaus zeigt das Buch mit vielen historischen Fotos die früheren Arbeits- und Lebenswelten von Holzknechten, Bergbauern und Dienstboten, die ältesten denkmalgeschützten Bauernhäuser und Almen, die Kunstwerke von Möbel- und Lüftlmalern.
Hochzeitsschrank aus dem Leitzachtal. Foto: privat
Er habe, so erzählt Andreas Estner, viele Abende bei den Leuten in den Wohnungen gesessen und alte Fotos studiert und eingescannt. Darüber hinaus sei er im Gemeindearchiv und der Staatsbibliothek fündig geworden.
Auch die Vor- und Frühgeschichte ist ein Thema. Während im nördlichen Landkreis Miesbach viele Siedlungsspuren aus Bronzezeit und Römerzeit gefunden wurden, fehlen sie im Leitzachtal ganz. Was sicher an der höheren und raueren Lage und an den kargeren Böden lag. Dabei bezog der Autor das Landesamt für Denkmalpflege und die Archäologische Staatssammlung mit ein.
Stollen am Arzmoos. Foto: privat
Außerdem geht es auch um die Geschichte des Erzbergbaues im Leitzachtal, der im 18. Jahrhundert so intensiv betrieben wurde, dass im Ort Hammer ein eigenes Eisenhüttenwerk gebaut wurde, das mehrere Jahre bestand – heute allerdings längst vergessen ist. Es war einer der wenigen Industrieversuche im Leitzachtal. Bis heute sind die Erzstollen im Gebiet Sudelfeld auf 1200 Meter Höhe zu finden. „Es ist unvorstellbar, wie die Bergleute die Gesteinsbrocken ins Tal gebracht haben“, sagt der Autor.
Besonders reizvoll ist ein Kapitel, das wie eine Zeitreise zu verstehen ist. Das Kapitel „Ortsgeschichte(n)“ beschreibt die Orte des Leitzachtals im Jahr 1817. Damals nämlich kam der „erste Tourist“ ins Tal: Es war der Schriftsteller August von Platen, der die Orte erstmals literarisch schilderte. Die Geschichte der Sommerfrische wird ausführlich beleuchtet, etwa die unterhaltsame Reise von Ludwig Steub in der Zeit um 1860, der mit der Maximiliansbahn von München nach Holzkirchen fuhr und weiter bis Miesbach, wo er verzweifelt einen Einspänner bekommen wollte und schließlich viele Kilometer ins Leitzachtal zu Fuß gehen musste, wo er sehr über die schlechten Wirtshäuser polterte, „was uns heute natürlich sehr zum Schmunzeln bringt“, meint Andreas Estner.
Eröffnungsfahrt der Wendelsteinbahn 1912. Foto: privat
Im Zentrum der Tourismusgeschichte(n) steht natürlich der Wendelstein und seine Erschließungsgeschichte. Etwa die „Erstbesteiger“, wie der Botaniker Franz von Paula Schrank (der erste Direktor des Botanischen Gartens in München, der 1788 den Wendelstein bestieg), oder Lorenz von Westenrieder, der 1780 von Brannenburg aus aufstieg und einen Bericht verfasste, wie ein Everest-Besteiger. Er schrieb am Gipfel: „Ich bin noch am Leben, denn ich schreibe, wenngleich an einem Ort, wo noch keines Menschen Hand geschrieben, vielleicht keine mehr schreiben wird …“.
„Hätte er geahnt, dass gut 130 Jahre später die Zahnradbahn auf den Berg fahren würde, es hätte ihn vermutlich der Schlag getroffen“, sagt Andreas Estner.
Lesetipp: Hommage an einen Berg – Nele von Mengershausen 36. Ausgabe der KulturBegegnungen, Seite 20
Das Buch Talgeschichte(n) erzählt die Geschichte der ersten Bergbahn Bayerns ausführlich. Zwischen 1903 und 1912 fand ein schwindelerregender Wettlauf zwischen Bayrischzell und Feilnbach statt. Denn ursprünglich sollte von Feilnbach durch das Jenbachtal eine Zahnradbahn mit Elektroantrieb auf den Wendelstein gebaut werden. Die erste Bergbahn Bayerns wurde deshalb innerhalb von zwei Jahren 1910 bis 1912 von Otto von Steinbeis von Brannenburg aus auf den Wendelstein gebaut und wenig später das erste Berghotel Bayerns.
Auch die kirchlichen Themen kommen nicht zu kurz: neben Portraits von Kirchen und Kapellen nimmt der Autor die Leser mit nach Birkenstein und begleitet Schwester Eresta einen Tag lang hinter den Kulissen der Marienwallfahrt, die nach Altötting zu den bedeutendsten in Oberbayern zählt.
Zu alledem beschreibt das Buch zum ersten Mal umfassend das Kriegsende im oberen Leitzachtal. Dazu wurden viele Zeitzeugengespräche geführt, Akten und Dokumente ausgewertet. „Die Gegend war im Visier der Alliierten“, erzählt Andreas Estner, denn am Sudelfeld habe es ein Berghaus der SS gegeben.
Die Geschichte des Tales endet im Jahr 1960. Eine weitere Folge sei geplant, verspricht der Autor. Denn einige Themen hätten im Buch keinen Platz mehr gefunden, etwa die Geschichten von Kriminellen, Wilderern oder Schmugglern.