Gutes Benehmen im Tanztheater
Das Tanztheater „Benimmmichnicht“ – für Kinder und Erwachsene eine tolle Inszenierung. Foto: Selina Benda
Tanztheater „Benimmmichnicht“
Provokant, aber humorvoll bettet Judith Seibert gesellschaftliche Konventionen und die Sicht der jungen Generation auf diese in ihr Tanztheater „Benimmmichnicht“ ein. Erfüllen alle unsere gesellschaftlichen Regeln und Normen noch ihren Zweck? Oder sind manche von ihnen vielleicht sogar der Auslöser für schlechtes Benehmen? Ein geniales Tanztheater, das vor allem Erwachsenen die Augen öffnen kann.
Drei Leinwände stehen im Gewölbe des Kulturzentrums Waitzinger Keller in Miesbach, nur eine schwarze Tanzmatte und drei Stühle komplettieren die Szenerie, welche sich dem Publikum an diesem Nachmittag bietet. Mit strengem Blick mustert Judith Seibert das Publikum. „Wart ihr schonmal im Theater?“, fragt sie die Anwesenden.
Eindrucksvoller Beginn mit Judith Seibert. Foto: SB
Manche nicken stumm, andere rufen laut „Ja!“. Dann wüssten sie alle ja, dass sie still und gerade sitzen müssten, keine Geräusche machen dürfen und die Kappen abnehmen sollten, erwidert sie. Ein zurechtrücken auf den Stühlen beginnt, die Kappen werden abgenommen, keiner sagt etwas.
Die junge Generation kommt zu Wort
Es ist ein einprägsamer Einstieg, welchen die Choreografin für dieses Tanztheater wählt. Die Botschaft kommt an – auch wenn es sich natürlich um eine Überspitzung handelt. Denn in ihrem Stück „Benimmmichnicht“ geht es genau darum: Benimmregeln, die aus der Zeit gefallen sind, Konventionen, welche vor allem von der jüngeren Generation in Frage gestellt werden – zurecht. Deshalb kommen auch sie in diesem Tanztheater zu Wort. Sequenzen von Interviews mit Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 20 Jahren sind der Leitfaden in diesem unkonventionellen Stück.
In eindrücklichen Interviews erzählen Kinder und Jugendliche von ihren Erfahrungen. Foto: SB
So erzählen sie zu Beginn von Verhaltensregeln wie „Stütz die Ellenbogen nicht auf den Tisch“ oder gar Bestrafungen wie „Wenn du jetzt nicht kommst, dann klatsch ich dir eine“. Manche Kinder in den Videos lachen darüber, anderen wiederum ist ihr Unbehagen anzumerken. Judith Seibert legt mit ihrem Tanztheater den Finger in die Wunde, nicht offensiv, jedoch deutlich spürbar. Sie lässt diejenigen sprechen, die wohl den meisten Regeln im alltäglichen Leben ausgesetzt sind: die Kinder und Jugendlichen.
Tanz, Theater und viel Humor zeichnen „Benimmmichnicht“ aus. Foto: SB
Um deren Aufmerksamkeit im Publikum nicht zu verlieren, sorgen hervorragende Tanz- und Theatersequenzen und Interaktion mit den Zuschauern für Auflockerung. Zusammen mit Judith Seibert tanzen und schauspielern sich Anjuska Velarde Ramos und Jochen Vogel grandios durch die Welt der Benimmregeln und hierarchischen Strukturen, durch stilisierte Geschlechterrollen und allerlei unnötiger Höflichkeiten. Es ist eine wahre Freude zuzusehen, wie mit wenigen Worten, feinster Mimik und Gestik und einfachsten Mitteln derart bedeutungsschwangere Botschaften kindgerecht vermittelt werden.
Kein konventionelles Tanztheater
Beeindruckend wie die einfachen Kostüme aus weiten Hosen, langärmeligen Shirts und kleinen Umhängen in grau und schwarz von den Darstellern als Stilmittel benutzt werden, um etwa das Gefühl der Angst, der Zerrissenheit und dem ewigen Hin und Her im Leben zwischen dem, was angeblich richtig und falsch ist, visualisierbar zu machen. Was die Kinder zum Juchzen bringt, stimmt die Erwachsenen nachdenklich.
Die Kostüme werden zum Stilmittel im Tanztheater. Foto: SB
Ein Spagat, welcher dem Team des Tourneetheaters auf mannigfaltige Art und Weise gelingt. Dabei bewegen sie sich scheinbar schwerelos über den Boden, hüpfen hin und her zwischen den verschiedenen Musik- und Tanzstilen, zwischen Hip Hop und Klassik, Ballett und zeitgenössischem Tanz. Dazwischen immer wieder die Interviews und ehrlichen Erzählungen zu Themen wie Cyber Mobbing, Unterdrückung, Individualität oder Akzeptanz.
Denn sie wissen, was sie tun
Das Tanztheater „Benimmmichnicht“ hebt nicht mahnend den Finger oder klagt an, wer nun tatsächlich richtiges oder falsches Benehmen an den Tag legt. Es stellt in Frage, wer diese Regeln überhaupt macht, was sie für ein gesellschaftliches Miteinander bedeuten, welche Vor- und Nachteile sie haben und vor allem eines: wie sie unsere junge Generation beeinflussen und prägen. „Wenn ich für meine eigene Meinung einstehe und niemandem damit weh tue, dann ist es doch kein schlechtes Benehmen, oder?“
Was ist eigentlich gutes Benehmen? Und wer macht die Regeln?. Foto: SB
Am Ende kommt heraus, was viele vielleicht schon wissen, aber nicht zugeben wollen: Die befragten Kinder und Jugendlichen wissen ganz genau, worauf es in einer funktionierenden Gesellschaft ankommt: Toleranz, Respekt, Empathie und ein friedliches und freundliches Miteinander, unter den Menschen selbst und mit der Natur.
Ein Tanztheater mit wichtiger Botschaft
„Bist du ein gutes Kind?“ fragen die Tänzer am Ende die Kinder. „Jaaaaa!“ schallt es durch das Gewölbe. „Befolgst du alle Regeln?“ lautet die Abschlussfrage. „Neeiin!“ die Antwort – und das ist auch gut so, findet Judith Seibert. Sie sei im Entstehungsprozess dieses Tanztheaters, nämlich von den Kindern und Jugendlichen, belehrt worden. Der anfängliche Plan gemeinsam mit Bühnenbildner und Grafiker Christian Schmid sei ein Stück darüber gewesen, dass es scheinbar nur noch schlechtes Benehmen geben würde.
Applaus gab es am Ende auch für das Publikum und sein „gutes Benehmen“. Foto: SB
Ein Vorwurf, welchen vor allem Erwachsene der jüngeren Generation machen. „Doch ich musste feststellen, dass dies eigentlich eher auf meine Generation zutrifft, als andersrum.“ Durch die überraschenden Antworten der Befragten in den Interviews sei eine völlig neue Botschaft entstanden. „Nun ist es eigentlich ein Tanztheater von Kindern für Erwachsene“, sagt die Choreografin. Und die dürfen sich bei der nächsten Vorführung von „Benimmmichnicht“ zahlreich einfinden, um sich ihren Konventionen auf den Zahn fühlen zu lassen.
Lesetipp: „Der Weihnachtshase“ von Judith Seibert