Das Ziel ist der Beginn, der Beginn ist das Ziel
„Die Erfindung der Welt“ von Thomas Sautner erschien Ende Februar 2021 beim Picus Verlag Wien. Foto: IW
Buchtipp der Redaktion
Ein Roman als Perpetuum mobile, der sich mittels seines Endes fortschreibt, ähnlich dem Leben? Mit diesem Gedankenspiel endete das letzte Buch Thomas Sautners. Jetzt ist sein neuer Roman im Buchhandel – und der Autor wagt das Experiment. Gelingt es?
Aliza Berg bekommt den Auftrag, einen Roman zu schreiben über das Größtmögliche, das sich eine Schriftstellerin vorstellen kann: das Leben. So beginnt „Die Erfindung der Welt“. Schriftsteller Thomas Sautner, der im niederösterreichischen Waldviertel lebt, hat abermals einen verstörend schönen und ebenso schön verstörenden Roman geschrieben, dessen Sogkraft man sich kaum zu entziehen vermag. „Die Erfindung der Welt“ kann als Fortsetzung der letzten beiden Bücher „Das Mädchen an der Grenze“ und „Großmutters Haus“ verstanden werden. Muss aber nicht. Wer jedoch im komplexen Sautnerschen Gedankenspiel um das Verschwimmen der Grenze zwischen Realität und Fiktion bereits zappelt wie eine Fliege im Spinnennetz, freut sich.
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Die Geheimnisse des Lebens
Nicht, dass nun der Autor eine einfache Auflösung des Rätsels um das „ohnehin Größtmögliche“ geben würde. Nein, er spinnt das Netz dichter und lässt die Leser zappeln. Ebenso wie er seine Heldin Aliza Berg mit der Aufgabe zappeln lässt, die ihr ein unbekannter Auftraggeber stellt, der zwanzigtausend Euro auf ihr klammes Konto überweist. Er knüpft daran die höfliche Bitte, ihr Roman solle kein geringeres Thema haben als das Leben und seine offenkundigen und verborgenen Geheimnisse. Das Feld für ihre Recherchen begrenzt er auf ein paar Quadratkilometer dünn besiedelten Landes. Dort, wo Malina, „Das Mädchen an der Grenze“, aufwuchs. Malina, die ihre Kristyna-Oma in „Großmutters Haus“ besuchte. Die in „Die Erfindung der Welt“ die einzige Person ist, die nicht greifbar sein wird bei Aliza Bergs Recherche. Warum?
Thomas Sautner zu Gast beim Schreibseminar in Weyarn. Foto: Petra Kurbjuhn
Vieles ist rätselhaft in diesem Roman, der wie ein Spiegelkabinett wirkt, wie ein Labyrinth verschachtelter Räume, geheimnisvoller Orte, Träume und Gedanken. Thomas Sautners poetische Sprache lässt Menschen sowie Fauna und Flora der stillen Landschaft lebendig vor dem geistigen Auge entstehen. Souverän jongliert er mit Ebenen und Perspektiven. Baut Schachtel um Schachtel gleich einer russischen Puppe, legt Fährten, platziert Querverweise zu den beiden anderen Büchern, die man alsbald ebenfalls zur Hand nimmt, um das Puzzle gemeinsam mit Aliza Berg zusammenzusetzen.
Neuer Blick auf alte Bekannte
Schnell ist man eingetaucht in diesen Auftragsroman der Schriftstellerin, der zugleich am Entstehen ist und bereits geschrieben. Alsbald dreht man sich mit der das Leben in dieser abgelegenen Gegend recherchierenden Autorin im Kreis. Das Leben aller Bewohner, hat der mysteriöse Auftraggeber G. verlangt. Da ist beispielweise Elli, die die Rolle der Elisabeth von Hohensinn „spielt“ und sich entschließt, sich in die Zeilen des Romans von Aliza fallen zu lassen. Jakob und Graf Leopold von Hohensinn, die schon in „Großmutters Haus“ vorgestellt wurden, sind mit von der Partie und zeigen gänzlich neue Facetten. Auch Kristyna-Oma begegnet man wieder und dem rätselhaften Fred, der in „Das Mädchen an der Grenze“ bereits in Malinas fiebrigen Träumen vorkommt.
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Mit wirkmächtiger Sprache und Hingabe zu Details zeichnet Thomas Sautner ein Bild seiner teils schrulligen, teils geheimnisvollen Figuren. Komplizenhaft lässt er seine Leser an den streng gehüteten Geheimnissen der Protagonisten teilhaben, während er sie Aliza Berg vorenthält. Seine Perspektivwechsel gleichen geschickt gesetzten Schachzügen. Leichte Kost ist das nicht, aber sonst wäre es auch kein Sautner-Roman.
… führungslos durch Zeiten und Räume
Es kommt der herausfordernde Punkt, an dem man sich als Leser ungeduldig fragen mag, worauf nun alles hinauslaufen wird. Sich beim Gedanken ertappt, das Buch beiseitelegen zu wollen. Um schließlich zu begreifen: Das ist Teil des Planes, den der Autor Thomas Sautner verfolgt und genial umsetzt. Alles passiert parallel. Denn Aliza Berg, die sich unwohl in ihrer Rolle als Auftragsschreiberin fühlt und an ihre Grenzen stößt, liebäugelt an dieser Stelle ebenfalls mit der Idee, abzubrechen und zurück nach Wien zu fahren. Wenn die Handlung diffus zu werden scheint und sich die Figuren hinter einem Schleier zu verstecken beginnen, gleichsam „zerwackeln“, liest man Sätze wie „Der Roman entglitt ihr. Die Figuren taten, was sie wollten, … der Roman lief führungslos durch Zeiten und Räume.“
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Und schon nimmt das Geschehen wieder Fahrt auf und es wächst beim Lesen die Zuversicht: Aliza Berg wird den gordischen Knoten lösen, dem Geheimnis allen Lebens an diesem Ort auf die Schliche kommen. Schon wird der Blick unter dem Mikroskop ins Detail und durch das Teleskop aufs große Ganze wieder klarer. Die Konturen der Figuren, die sich Aliza zu entziehen drohten, schärfen sich. Und es ist die Liebe, die sich in den Mittelpunkt der Handlung schiebt. Die Liebe, die den Sinn und das Geheimnis allen Lebens auszumachen scheint. Und mit ihr auch das Leiden. Anfang und Ende, Leben und Tod. Die Unendlichkeit des Universums und die Unendlichkeit im Mikrokosmos allen Lebens in diesem Stück Grenzland, unter der Oberfläche des Teiches, im Moos, im Wald.
Teil der Handlung
Am Ende hat Aliza vieles erlebt und gesammelt und die Einsicht gewonnen: „Du bist immer Teil der Handlung, ob du willst oder nicht, ob du es mitkriegst oder nicht“. Und während man sich noch fragt, wie sie aus dieser Sammlung nun einen Roman schreiben wird für ihren Auftraggeber G., ist der Roman Thomas Sautners auch schon zu Ende.
Es ist kein Buch, dass man in einer Nacht durchliest. Oder in einem Rutsch. Weil man gar nicht möchte, dass es endet. Zumindest nicht so schnell. Und wenn es zu Ende ist, wenn man die Danksagung liest und sich auch dabei als Schachfigur in diesem Spiel fühlt, sich an der Nase herumgeführt fühlt, dann möchte man das Buch noch ein zweites Mal lesen. Und ein drittes Mal. Wenn Romane wie ein Perpetuum mobile sein sollten: hier ist es gelungen.