„Er gehört zu mir“, sagt Jesus
Thomas Sautners brandneuer Roman handelt in der Psychiatrie – und ist dennoch schmunzelbar leicht. Foto: IW
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Um nichts Geringeres als das Menschsein, das Universum, Gott und den Zustand der Welt geht es in Thomas Sautners neuem Roman „Pavillon 44“. In diesem Pavillon der Wiener Psychiatrie auf der Baumgartenhöhe geht Primar Siegfried Lobell seinen Studien nach – und mit ihm gerät ein ganzer Figurenkosmos ins Rollen. Sautner-Fans werden sich verzückt die Hände reiben und ausrufen: „Endlich!“ … und von der ersten bis zur allerletzten Seite nicht haltmachen, bis sie das Mysterium Mensch mit all seinen Sonnen- und Schattenseiten ausgekostet haben und sich das Geheimnis des Universums lüftet.
Die große Frage schiebt sich zwischen alle Seiten: Wer ist hier eigentlich verrückt? Alle? Am Ende auch der Leser, die Leserin? Möglicherweise. Vielleicht sogar der Autor selbst? Oder gar Gott? Bei diesem einer Scharade gleichenden Verwirrspiel müssen die Protagonisten auf vielen Ebenen ringen. Um Fassung, um ihren Verstand, ums gesehen und gehört werden, ums ernst genommen werden. Ums Begreifen des großen Ganzen und vieler kleiner Details. Darum, nicht als verrückt eingestuft zu werden. Und darum, als verrückt eingestuft zu werden.
Sprachlicher Hochgenuss
Nach dem vergleichsweise schmalen Band „Nur zwei alte Männer“ aus dem letzten Jahr liegt nun wieder ein dicker Sautner-Roman vor, den man inhalieren möchte, alle 458 Seiten hindurch. Man kann ihn einfach nicht beiseitelegen. Nichts ist, wie es scheint. Darin ist Thomas Sautner so meisterlich wie konsequent. Auch sprachlich ist das Buch wieder ein Hochgenuss. Die Figuren: Primar Siegfried Lobell, der hasengesichtige, friedliche, die Menschen liebende Psychiater, dessen umstrittene Methode ist, mit den Verrückten so umzugehen, als wären sie gesund. Sein Kollege, der kalte, analytische Primar Christian Thaller, für den der Mensch allenfalls von seinem Gehirn durch biochemische Reaktionen fremdgesteuert ist und daher auch auf gleichem Wege heilbar: durch Pillen.
Wiedersehen mit alten Bekannten
Außerdem – oh Freude, eine bekannte Gestalt: Autorin Aliza Berg, die in „Die Erfindung der Welt“ romanschreibend das Leben erforscht und dabei auf einen Figurenkosmos früherer Sautner-Romane trifft. Aber ist Aliza Berg wirklich bekannt? Alles scheint ineinander verwoben und auch die Möglichkeit besteht, dass ihr Name ein Heteronym von Malina ist, dem mysteriösen Mädchen weiterer Sautner-Romane. Auch im Pavillon 44, wo Aliza Berg als Gast einzieht, um einen Roman über die Psychiatrie zu schreiben und dabei Primar Lobell zunächst beinahe um den Verstand bringt, ist ihre Identität mysteriös, schreibt sie doch unter mehreren Synonymen.
Thomas Sautner im Sommer 2023 bei der Kulturbrücke Fratres. Foto: Hannes Reisinger
Ganz nebenher wird man Zeugin, wie ein Roman entsteht, mit welchen Widrigkeiten Autoren und Schriftstellerinnen zu kämpfen haben – bei Thomas Sautner insbesondere das Gefühl für die Realität auslotend, die gern mal „zerwackelt“. Bald ist Aliza Berg ihrem eigenen Misstrauen gegenüber misstrauisch. Und ist eigentlich sicher, dass sie ein Gast im Pavillon 44 ist?
Stations-Liebling Cecilie, die 84-Jährige, die sich einbildet, 6212 Jahre alt zu sein, bringt Thomas Sautners Faible für Verschachteltes auf den Punkt. In jeder Schachtel ihrer vielen Leben befände sich eine weitere und in allen liegt: ein Körnchen Wahrheit. Als Überraschungsgast ist noch eine weitere Figur im Pavillon. Sie entstammt dem „Glücksmacher“ – mehr wird nicht gespoilert. Thomas Sautner lässt sich sein reichliches Figurenpersonal aneinander reiben. Und als reiche dies alles nicht, taucht der Autor im Postskriptum noch selbst im Kleingedruckten zutage. Und selbst Jesus fehlt nicht, er verkündet: „Jeder Mensch ist alle Menschen und keiner ist für sich allein.“
Irrer wie sinniger Zustand der Welt
Von seinen besonderen vier Patientinnen und Patienten im Pavillon 44 der Psychiatrie erhofft sich Primar Siegfried Lobell Erkenntnisse über das Rätsel Mensch und nicht zuletzt über sich selbst. Als zwei seiner Schützlinge verschwinden, macht er sich auf den Weg in die Wiener Innenstadt. Was er findet, sind zahlreiche Verrückte, aber nicht die beiden Abgängigen. Der Autor, der in Wien und im Waldviertel lebt, hat wieder einen grandiosen Roman verfasst: über den Zustand der Welt, der sich im Inneren der Psychiatrie spiegelt. Aber auch im Außen, in der Stadt Wien, Mittelpunkt der Welt, in der es nicht gänzlich ausgeschlossen scheint, dass Gott im Stephansdom zu Hause ist.
Schreibseminar bei Thomas Sautner in Weyarn 2019. Foto: Petra Kurbjuhn
Thomas Sautner hat sich zwischen 2010 und 2015 mehrfach zu Recherchezwecken nach Wien ins Otto-Wagner-Spital in den Pavillon 44 begeben, um einen Roman über die Psychiatrie zu schreiben. Das wirft am Ende die Frage auf, ob Aliza Berg nicht doch vielleicht Alter Ego des Autors ist, und dann… Malina auch? Eh klar! Denn „jeder Mensch ist alle Menschen“. Religion und Wissenschaft, Realität und Fiktion, Gut und Böse, verrückt und normal, du, ich, der Autor, die Leserinnen, alle Menschen – alles folgt dem gleichen göttlichen Plan. Oder ist doch alles anders?
Lesetipp: Schreibseminar bei Thomas Sautner im Waldviertel