Der Totentanz auf dem Museumsfriedhof
Für den Totentanzzyklus fanden sich passend die zeitgenössischen Texten von Wilfried Schmickler. Foto: Markus Thurner
Ausflug nach Tirol
Der Museumsfriedhof Tirol bei der Sargzahnschmiede in Kramsach zeigt historische alpenländische Grabkreuze aus fünf Jahrhunderten – mit äußerst kuriosen Inschriften. Das Highlight auf dem „Friedhof ohne Tote“ aber ist der Totentanz des Tiroler Bildhauers Markus Thurner. Es ist der weltweit monumentalste zeitgenössische Totentanzzyklus.
Was ist witzig an einem Friedhof? Nichts. Friedhöfe sind stille Orte der Erinnerung, an denen man sich andächtig bewegt. Und doch kann es vorkommen, dass sich irgendwo ein Grab versteckt, bei der man sich, hoppla, verwundert die Augen reibt: Die Inschrift ist nicht, was man sich unter einem würdevollen Abschied vorstellt. Sie ist kurios, lustig, heiter. Solche Grabkreuze hat der Kramsacher Sagzahnschmied Hans Guggenberger jahrzehntelang im Alpenraum zusammengetragen, 1965 nach mühevoller Arbeit den Museumsfriedhof Tirol angelegt und den „Lustigen Friedhof“ seither ständig erweitert. Schließlich blieb ihm nur ein einziger über viele Jahre gehegter Wunsch offen: ein zeitgenössischer Totentanzzyklus, der der alten Tradition folgen, aber trotzdem etwas Neues, Eigenständiges, Frisches sein sollte.
Sagzahnschmied Hans Guggenberger, Bildhauer Markus Thurner und Martin Reiter (Verleger „Edition Tirol“) bei der Eröffnung des ersten Totentanzzyklus. Foto: Markus Thurner
Entwürfe oft im religiösen Kontext
Mit dem Mauracher Bildhauer Markus Thurner war Hans Guggenberger zuvor bereits neue Wege der Umsetzung bildhauerischer Entwürfe gegangen: Dessen monumentale, fragmentarische Skulptur „Altwürde“ aus über 300 Cortenstahl-Einzelteilen steht vor dem Eingang des Geländes an der Straße. Die Arbeiten von Markus Thurner entstehen oft im religiösen Kontext und sorgen mit ihrem zeitgemäßen Interpretationsspielraum für Aufsehen. Er geht in seiner Kunst sowohl thematisch als auch technisch gern an die Grenzen. Aus der klassischen Bildhauerei kommend, fühlt er sich der figürlichen Tradition des Tirols verpflichtet, die er entwickelt und in unseren heutigen Kontext platziert. In ihm fand der Sagzahnschmied und Museumsdirektor den geeigneten Bildhauer, der sich gern in das Thema des Totentanzes vertiefte.
Nach den Entwurfszeichnungen des Totentanzes wurden die Szenen schließlich in der Sagzahnschmiede in Cortenstahl umgesetzt. Foto: Markus Thurner
Totentanzdarstellungen gibt es seit dem Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert. Entstanden sind sie überwiegend im Alpenraum. Der „Danse Macabre“ führt in einem Reigen die Menschen zum Tod, vor dem alle gleich sind: Arme und Reiche, Junge und Alte, Fromme, Brave ebenso wie Missetäter – ein Querschnitt durch die Gesellschaft. „Memento mori – sei dir deiner Sterblichkeit bewusst“ ist die Botschaft, fliehe den weltlichen Vergnügungen, um lange zu leben und gut zu sterben.
Totentanz „Das Letzte“
Markus Thurner hat sich tief hineingearbeitet in das Thema, in das gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend auch profane, politische und gesellschaftskritische Darstellungen Einzug hielten. „Die Idee ist zuerst ein Gefühl, eine Vision, sie muss wachsen, reifen und Gestalt annehmen“, erläutert der Bildhauer rückblickend seinen intensiven, anderthalb Jahre dauernden Recherche- und Entwurfsprozess. In allen Totentanzdarstellungen gäbe es einen Text um die Verantwortung der menschlichen Taten, der eine zentrale Stelle einnimmt. Deshalb habe er lange nach geeignetem Textmaterial gesucht. Fündig geworden ist er schließlich bei dem Gedicht „Das Letzte“ des deutschen Kabarettisten Wilfried Theodor Schmickler: „Wahrlich, wir sagen euch: Was ihr euren Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr euch selbst getan.“ Mit diesen Eingangszeilen des Gedichtes beginnt auch der erste monumentale Teil des Totentanzes, den Markus Thurner 2018 vollendete.
Zwischen den Tafeln bilden Pilaster mit menschlichen Gefühlsregungen die Übergänge zwischen den Handlungen. Foto: Markus Thurner
Alle zehn Motive und auch der Text zeigen etwas „Grenzgängerisches“ aus unterschiedlichen Bereichen der heutigen Zeit. Die Wirkung ist monumental und überwältigend, der Inhalt zeitgemäß und aufrüttelnd. Es sind Momentaufnahmen, mit denen er anhand des Totentanzes den Betrachtern den Spiegel vorhält. „Ich – einer – meiner – mir – mich – und jeder nur für sich“ – so lautet der letzte Vers, bei dem der Tod nach den Betrachtenden selbst greift und verdeutlicht: Niemand will es wahrhaben, aber jeder ist einmal dran, wenn der Tod nach dem Leben greift.
Heutige Bedrohungen der Gesellschaft
„Was wäre heute der Totentanz?“, sei die zentrale Frage gewesen, und „welches sind die heutigen Bedrohungen, denen wir uns ausgesetzt sehen, nachdem es nicht mehr die Pest und Cholera sind, die die Menschen reihenweise auslöschen“? Klima- und Flüchtlingskrisen seien das Offensichtliche, aber auch gesellschaftliche Phänomene wie der Kapitalismus mit seiner Konsumwut und Egoismus, Ehrgeiz, Schönheit um jeden Preis. Das Resultat daraus: Altsein sei nicht mehr „in“. Man suggeriere eine junge Gesellschaft, obwohl sie statistisch immer älter werde. Ein Thema, mit dem sich Markus Thurner bereits mit der „Altwürde“ beschäftigte – Altern in Würde.
Schreitet man nun entlang der Grabkreuze mit den lustigen, kuriosen Inschriften („Hier schweigt Johanna Vogelsang, sie zwitscherte ein Leben lang“), gelangt man zum Totentanzzyklus, der das Museumsfriedhofsgelände begrenzt. Gerade noch hat man gelacht, hier wird man jetzt nachdenklich, vielleicht auch demütig.
Zweimal 20 Meter Totentanz
Auf insgesamt 35 Quadratmetern ist der erste Totentanzzyklus auf 10 Cortenstahltafeln aufgeteilt, zwanzig Meter lang. Hier eine junge Frau im ekstatischen Tanz, dort ein Extremsportler, der auf dem Weg zum Gipfelerfolg zusammenbricht. Ein ornamentales Motiv aus Herbstlaub, das daran erinnert, dass der Tod als Schnitter zur Erntezeit des Lebens kommt, verbindet die Tafeln. Ihr zarter Facettenschliff ermöglicht, dass sich das einfallende Licht mit jedem Blickwinkel ändert. Zugleich muss man sich Zeit nehmen, um die Motive zu erfassen. Die Szenerien, in denen der Tod zu den Protagonisten kommt, sind gleichsam vom Laub versteckt. Unterbrochen werden die Tafeln von Pilastern, auf denen ein Reigen menschlicher Physiognomien dargestellt ist: Von Gier, Hass, Ekel und Gleichgültigkeit bis zu Ohnmacht und Angst – Gefühle, denen die Menschen durch die Zwänge der Gesellschaft ausgesetzt sind. Sie dienen als Bindeglied zu den Bilddarstellungen.
Der zweite Zyklus des Totentanzes widmet sich dem Neid und der Gier. Foto: Markus Thurner
Weil der Totentanzzyklus sehr viel Beachtung und Anerkennung fand und weil es auf dem Friedhof noch Platz gab, fertigte Markus Thurner im Auftrag von Hans Guggenberger noch einen zweiten Zyklus, der 2022 festlich eingeweiht wurde. Wieder ist es ein Text von Wilfried Theodor Schmickler, diesmal zu „Gier und Neid“, der den textlichen Rahmen stellt. „Was ist das für ein Tier, die Gier? Es frisst an mir, will mehr und mehr und frisst uns leer“, beginnt die erste der zehn neuen Tafeln. Der zeitgemäße Text führt vor Augen, was der Sog des Konsumrausches mit den Menschen macht, und wenn zu Neid und Gier schließlich der Hass kommt. Bildlich umgesetzt, kann man sich der doppelten Wirkung schwer entziehen. Wobei der zeitgemäße Totentanz lediglich aufzeigt, was ist, ohne den Zeigefinger zu heben und zu moralisieren. Seine ganze Wirkung entfaltet er in den Abendstunden, wenn die Segmente indirekt beleuchtet sind.
In der Dämmerung entfaltet der Totentanz eine besondere Wirkung. Foto: Günter Unbescheid
Einen „Einlader“ braucht’s noch
Der Mauracher Bildhauer ist mit dem Thema Totentanz längst nicht am Ende. Viel zu tief ist er mittlerweile in die Materie eingetaucht. Seit einigen Jahren ist er nun auch Mitglied der Europäischen Totentanzvereinigung, Gruppe Austria. Als Nächstes ist eine monumentale Skulptur aus Cortenstahl geplant, die dem Museumsfriedhof mit seinen Marterln und Grabsprüchen, dem Weltfriedenskreuz und den Weltfriedensglocken und natürlich dem monumentalsten Totentanzzyklus der Welt als „Einlader“ dienen soll. Und was läge näher als ein Geige spielender Tod? Und da ist noch die Experimentierfreude des kongenialen Duos Hanns Guggenberger und Markus Thurner, ihr Faible für kniffelige technische Umsetzungen, ihre Lust, die Grenzen der Machbarkeit auszuloten. Daher darf man gespannt sein auf diese Skulptur, die dem ganzen Ensemble die Krone aufsetzen wird.
Ein Porträt von Markus Thurner lesen Sie in der 32. Ausgabe der KulturBegegnungen.
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