Grete Weil

Trauma eines Zeugen

Grete Weils großer Roman über das Schicksal der von den Nazis verfolgten holländischen Juden, basierend auf den eigenen Erfahrungen der Münchnerin während ihres Exils in Amsterdam. Foto: Hannah Miska

Buchtipp von KulturVision

Pünktlich zum Jubläumsjahr „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ legt der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis den Roman „Tramhalte Beethovenstraat“ neu auf und erinnert damit an die namhafte jüdische Schriftstellerin Grete Weil.

Man könnte es nicht besser erfinden: Sie vergeigte das Abitur im Fach Deutsch, bevor sie es — Jahrzehnte später — zu literarischem Ruhm brachte. Die Rede ist von Grete Weil — Schriftstellerin, Fotografin und Librettistin.

1906 in Egern am Tegernsee geboren, wächst Margarete Elisabeth Dispeker in einer großbürgerlichen, jüdisch-assimilierten Familie auf. Der Vater ist ein angesehener Rechtsanwalt, man wohnt in München, besitzt ein Landhaus am Tegernsee und pflegt den Umgang mit Münchner Literaten, Künstlern und Intellektuellen. Die junge Grete ist unter anderem mit Klaus und Erika Mann befreundet. Bereits mit zwölf Jahren beginnt sie, ganz für sich allein, Geschichten zu schreiben.

Leben im Exil

Nachdem sie das Abitur nachgeholt hat, studiert sie Germanistik und heiratet 1932 den promovierten Germanisten Edgar Weil, der Dramaturg an den Münchner Kammerspielen ist. Nur ein knappes Jahr später wird der jüdische Ehemann von den Nazis verhaftet und emigriert — nach der Entlassung aus der sogenannten Schutzhaft — in die Niederlande. Grete folgt ihm und holt 1938, nach dem Tod des Vaters, ihre Mutter nach. Im Juni 1941 wird Edgar bei einer Razzia verhaftet, deportiert und im September 1941 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. Um sich und ihrer Mutter das Überleben zu sichern, arbeitet Grete für den Judenrat, der zwangsweise mit den Deutschen kollaboriert, eine „naive und kriminelle Vereinigung“, wie Weil später sagen wird. Im September 1943 taucht sie mit ihrer Mutter unter und lebt bis zum Kriegsende im Versteck.

Bereits im Versteck beginnt sich Weil literarisch mit ihren Kriegserlebnissen auseinanderzusetzen — Schuld und Verantwortung, Trauer und Schmerz sind wiederkehrende Themen. Weder ihre Erzählung „Ans Ende der Welt“ noch der Roman „Tramhalte Beethovenstraat“ finden jedoch Resonanz im Nachkriegsdeutschland.

Literarischer Erfolg

Erst 1980, da ist sie schon 74 Jahre alt, erfährt Weil mit ihrem Roman „Meine Schwester Antigone“ späte literarische Anerkennung. Sie wird mit Literaturpreisen überhäuft, auch ihre frühen Werke werden nun verlegt.

Mit der Neuauflage von „Tramhalte Beethovenstraat“ bringt der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis nun dankenswerterweise die Autorin und ihren wichtigen Roman in Erinnerung. Noch selten ist das Thema „Trauma“ literarisch besser dargestellt worden als in diesem Werk.

Trambahnen im Kopf

Worum es geht: Dem jungen, vielversprechenden Schriftsteller Andreas gelingt es, der Einberufung zur Wehrmacht zu entgehen und wird als Korrespondent einer Zeitung in das von den Deutschen besetzte Amsterdam geschickt. Er wohnt, in der Mitte der Stadt, zur Untermiete in der Beethovenstraat, betrachtet seinen Korrespondentenjob als Nebensache und will sich stattdessen dem Schreiben eines Romans widmen. Doch findet er dafür nicht die nötige Ruhe: Nacht für Nacht wird er von seinem Zimmer aus Zeuge, wie Hunderte Menschen in Straßenbahnen gepfercht werden, junge, alte, Kinder. Es ist der Beginn „einer Reise nach Osten, in das Nichts“. Vierhundert Menschen jede Nacht, die Deutschen sind ordentlich und zählen genau. Mit dem Schreiben ist es vorbei, Andreas, halb verrückt, sucht einen jüdischen Nervenarzt auf, dessen siebzehnjährigen Sohn Daniel er kurz darauf bei sich versteckt. Dass er den von ihm geliebten Jungen nicht retten kann, wird für Andreas zur lebenslangen Erschütterung. Er heiratet Susanne, eine Cousine Daniels, die dem Jungen äußerlich gleicht.

Susanne findet, dass ein deutscher Dichter in deutscher Umgebung leben muss, und baut — von dem Vermögen ihrer vergasten Eltern — ein Haus für sich und ihren Dichter in München-Grünwald. Doch es hilft nichts. Andreas hat nur noch ein einziges Thema im Kopf, er muss Zeugnis ablegen. Dafür findet er jedoch die Worte nicht, es gibt keine Antworten und keine Worte, die Sprache ist unwiderruflich verloren, auch in der Ehe. Meisterlich beschreibt Weil die Verstörung des jungen Mannes, der sich unverstanden fühlt in einer Nachkriegsgesellschaft, die von der Vergangenheit nichts wissen will.

Gegen das Vergessen

Das Buch trägt starke autobiografische Züge. Grete Weil, die zum Entsetzen ihres Freundes Klaus Mann 1947 wieder nach Deutschland zurückkehrte, ist eine Zeitzeugin, die sich bis zu ihrem Tod der Aufgabe verpflichtet sah, gegen das Vergessen anzuschreiben. Sie starb 1999 in ihrem Haus in Grünwald. Wer das Grab dieser großen Schriftstellerin und Zeitzeugin besuchen möchte: Grete Weil ist auf dem Neuen Gemeindefriedhof in Rottach-Egern beerdigt.

Grete Weil

Grete Weil
Urnengrab von Grete Weil, die nach dem Krieg ihren Jugendfreund Walter Jockisch heiratete. Foto: Hannah Miska

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Grete Weil: Tramhalte Beethovenstraat. Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin, 2021, 192 Seiten, 22 Euro.

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