Uhr oder Zeit?
Alexander Oltenau: Uhren, gmundart 2022. Foto: Petra Kurbjuhn
Betrachtungen zur Zeit
Heute Nacht stellen wir die Uhr um eine Stunde vor, ab morgen gilt die Sommerzeit. Warum aber spricht jedermann von Zeitumstellung? Kann man die Zeit umstellen?
Der Zeitforscher Jonas Geißler weist jedes Jahr zweimal gebetsmühlenartig darauf hin, dass wir eine Uhrenumstellung haben und keine Zeitumstellung. Er sagt, dass dieses Ritual anscheinend so hartnäckig ist, dass es selbst das EU-Parlament nicht abschaffen kann.
Und er sagt: „Für alle Zeitweisen ist es eine gute Gelegenheit wieder einmal über Zeit nachzudenken. Die Zeit können wir nicht umstellen. Wir können sie auch nicht sparen, managen oder in den Griff bekommen. Wir können nur eines mit ihr tun, sie leben! Das sollten wir nicht vergessen.“
Die Uhr von Thomas Huber und Wolfgang Aichner beim Thementag „Zeit“ 2023. Foto: Petra Kurbjuhn
Lesetipp: Die Zeit blieb stehen
Ab und zu lohne es sich, darüber nachzudenken, was das heißt: „Zeit leben.“ Und es lohne sich darüber zu reflektieren, was gefüllte von erfüllter Zeit unterscheidet. Sollte man die Zeit in den Griff bekommen oder lieber einladen? Sind die Stunden, die im Leben zählen, nicht jene, die wir nicht zählen? Gehen Sie selbstbestimmt mit Ihrer Zeit um? Oder fühlen Sie sich auch häufig gehetzt und überfordert? Zeit leben, nicht managen. Wie können wir lernen, unsere Zeit nicht als Widersacherin, sondern als Freundin zu betrachten? Wie werden wir zeitsatt und zeitsouverän?
Karlheinz A. Geißler. Foto: Petra Kurbjuhn
Der große Zeitforscher Karlheinz A. Geißler hat über all diese Fragen und noch mehr nachgedacht und zahlreiche Bücher geschrieben. Er beschäftigte sich sein Leben lang mit der Zeit und hat am 9.11.2022 das Zeitliche gesegnet. Sein Credo: Die “Time is money”-Logik kommt Mensch und Natur teuer zu stehen. Ob Artensterben, Klimawandel oder Corona-Pandemie – die großen ökologischen Krisen der Gegenwart hängen eng mit dem Faktor Zeit zusammen.
„Das Band zur Natur wurde abgeschnitten“, stellte Karlheinz Geißler fest, als wir ihn für die 34. Ausgabe der KulturBegegnungen interviewten und verwies auf eine Baumscheibe, die den Lauf der Naturzeit symbolisiert. Diese sei elastisch und reagiere auf äußere Einflüsse, die Ringe wiederholen sich zwar, aber mit Abweichungen. Die Uhr hingegen hat einen präzisen Takt, der immer dasselbe wiederholt.
Uhr ohne Zeiger. Foto: Petra Kurbjuhn
Mit der Uhr wurde aus der Macht der Natur die Macht des Menschen, aber das konnte nicht gut gehen, es sei unnatürlich. Und so kam es zu den heutigen Problemen. „Zeit ist Geld“, zitiert der Wissenschaftler, der mit Stechuhr vertaktete Mensch habe gesundheitliche Probleme. Und was den Wohlstand durch Vertaktung anbelange, sähen wir die Auswirkungen an den derzeitigen massiven ökologischen Problemen.
Uhrzeit läuft ab
Jetzt aber, davon zeigte sich Karlheinz Geißler überzeugt, läuft die Uhrzeit ab. „Der Takt ist zu starr, das bringt uns nicht weiter.“ Die Uhr werde vom Mobiltelefon abgelöst. Man müsse sich nicht mehr nach starren Zeiten richten, sondern das Handy erlaube Flexibilität. „Unser Wohlstand wird nicht mehr über Schnelligkeit, sondern über Verdichtung geregelt, also immer mehr in derselben Zeit zu tun.“ Diese Flexibilisierung des Handys reduziere zwar die Taktnotwendigkeit, aber sie liefere nicht den notwendigen Rhythmus, das müsse der Mensch selbst tun. „Es kann der richtige Schritt sein“, sagte der Zeitforscher, beispielsweise würden viele Betriebe Gleitzeit einführen.
Zeit statt Hast und Hektik
Wir verabscheuen Langeweile, mögen nicht warten und steigern allzu gerne das Tempo. Aber wer sich unter dem Diktat der Termine nur durchs Leben peitscht, lebt an seinen eigenen Möglichkeiten vorbei. Zeit ist Leben, nicht nur kostbar, sondern auch vielfältig und bunt. Zeit gewinnt, wer der Devise abschwört, die alles Leben dem ökonomischen Nutzen unterordnet. Ruhe ist ein Sehnsuchtswort. Und Langsamkeit eine Einladung.
Am Schliersee. Foto: MZ
Die heutige Sehnsucht vieler Menschen aufs Land zu fahren, zeige, so sagte Karlheiz Geißler, dass man wieder die rhythmische und langsame Zeit erleben wolle. Um zeitlos zu leben, sollte man mit kleinen Kindern spielen. „Wenn das Kind die Uhr lernt, ist die Kindheit vorbei.“
Aber nach der Devise von „time is money“ beschleunigen wir nahezu alle Lebens- und Arbeitsbereiche. Die erwarteten Effekte bleiben aber immer öfter aus. Menschen und Unternehmen werden durch die Verdichtung belastet – gesundheitlich wie ökonomisch. Vielerorts scheint der „rasende Stillstand“ eingetreten zu sein.
„Wir glauben daran, dass Wege für eine gesundere Lebensweise und Lösungen für ökonomischere Arbeitsformen im klugen Umgang mit der Zeit liegen“, sagt Jonas Geißler in Fortführung der Arbeit zur Zeitforschung seines Vaters.
Die Uhrenumstellung heute Nacht könnte eine Gelegenheit sein, sich ein wenig mehr mit der Zeit und ihrem Einfluss auf unser Leben zu befassen.