Unsere Überlebensformel
Plakat zum Vortrag von Ulrich Eberl. Foto: Piper Verlag
Buchrezension von Marc-Denis Weitze
Der Wissenschaftsoptimist
„anders wachsen – Alternative Ideen für das Oberland“ hat Wissenschaft und Begegnung im Fokus. Was Wissenschaft derzeit für Ideen liefert, ist im Buch „Unsere Überlebensformel“ von Ulrich Eberl allgemein verständlich dargestellt.
Wissenschaft kann einiges zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen beitragen. Ulrich Eberl, promovierter Biophysiker, der lange Zeit in Kommunikationsabteilungen deutscher Technologieunternehmen tätig war und nun als Wissenschaftsautor wirkt, stellt anhand von neun globalen Krisen „die Lösungen der Wissenschaft“ vor. Die „Energie-Krise“ kommt gleich in Kapitel 1. Mobilität, Städte, Konsum, Landwirtschaft und Krankheiten – so lauten einige weitere zentrale Themen des Buches.
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Mühsamer Weg
Wie mühsam der Weg von der Invention zur Innovation jedoch ist, macht Ulrich Eberl am Beispiel der Künstlichen Photosynthese fassbar: Hier ist nach über 30 Jahren „ein echter Durchbruch […] nach wie vor weit entfernt“ (S. 259). Ein anderes Beispiel ist „Desertec“ (S. 56). Dieses Projekt, das Strom aus der Wüste holen sollte, war zwar eine tolle Idee, ist jedoch gescheitert an der unstabilen politischen Situation in den zu beteiligen Ländern Nordafrikas.
Ulrich Eberl mit aktuellem Buch und Roboter Nao. Foto: Piper Verlag
„Kernenergie“ wird auf gerade mal einer Buchseite abgehandelt. Der Autor lässt keinen Zweifel aufkommen, dass diese Option (für ihn) „kaum vorstellbar“ (S. 53) ist. Hier hätte ich mir eine ausführlichere Betrachtung zu den Vor- und Nachteilen gewünscht und zur Frage, wieso andere Nationen einen anderen Weg gehen als wir in Deutschland. Die Impfstoffe auf mRNA-Basis dagegen werden gefeiert: „Ein Trumpf der mRNA-Technologie ist ihre Flexibilität: Virusvarianten, die modifzierte Spike-Proteine besitzen, lassen sich einfach dadurch bekämpfen, dass die Abfolge der mRNA-Bausteine entsprechend geändert ist. Ein angepasster Impfstoff kann in den Laboren binnen weniger Wochen entwickelt werden“ (S. 316). Ja, das waren und sind die Versprechungen – jedoch sehe ich bis heute leider keinen angepassten Impfstoff auf dem Markt, obwohl schon seit Monaten von Corona-Mutanten die Rede ist.
Blick ins Buch. Foto: Piper Verlag
Intensive Recherchen
Ulrich Eberl präsentiert auf 400 Seiten viele Zahlen und Fakten – zum gegenwärtigen Stand gesellschaftlicher Herausforderungen, zu wissenschaftlichen Grundlagen und technischen Visionen. Er nennt zahlreiche Quellen – PR-Material von Unternehmen und Hochschulen, Prognosen von Beratungs-Firmen, politische Wunschvorstellungen, Medienartikel und Material aus eigenen Expertengesprächen. Dabei wird dem Leser nicht immer deutlich, welchen Status die vorgestellten Ansätze haben, inwieweit sie konkret, realistisch oder einfach nur denkbar sind.
So geht es auf S. 149 um die (energieintensive) Zementherstellung. Die Brennöfen sollen in Zukunft mit reinem Sauerstoff statt mit Luft befeuert werden. Und als Abgas entsteht dann nur „fast reines CO2“, das „in unterirdische Lager gepresst werden kann. Alternativ kann man es für die Getränkeindustrie verwenden oder in Treibhäusern, damit Pflanzen besser wachsen.“ Hier wäre eine Einordnung hilfreich: Was mag der reine Sauerstoff kosten und wie viel Mineralwasser will man herstellen, um das anfallende CO2 zu „nutzen“?
Erneuerbare Energien. Foto:Gerd Altmann Pixabay
Neue Möglichkeiten
Es gibt viele wissenschaftlich-technische Möglichkeiten – und es werden immer mehr. Von diesen erzählt das Buch. Es will Mut machen, Hoffnung verbreiten, zum Nachdenken anregen. Angesichts der vielen Versprechungen wäre aber vielleicht etwas mehr Bescheidenheit seitens der Wissenschaft angebracht: Nur aus einem Bruchteil von Einfällen werden brauchbare Lösungen entstehen. Die vielen Möglichkeiten müssen zunächst im Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen, deren Interessen und Werten durchleuchtet werden.
Erst wenn sie für interessant befunden werden, beginnt ihre Bewährungsprobe: Lassen sie sich umsetzen? Werden Nebenfolgen von Technologien sichtbar, die man zunächst nicht hatte kommen sehen (einschließlich Technik-Katastrophen)? Scheitern die Visionen an technischen Problemen (z.B. Rohstoffmangel), ökonomischen und/oder politischen Randbedingungen? In zehn, zwanzig Jahren mag man prüfen, wie viele der hier beschriebenen Ideen erfolgreich umgesetzt werden konnten.
Marc-Denis Weitze ist Wissenschaftler, Privatdozent an der TU München, Initiator der Wissenschaftstage Tegernsee und lebt in Holzkirchen. Er glaubt nicht an „die Lösungen“ der Wissenschaft – diskutiert aber gerne die von ihr eröffneten Möglichkeiten im gesellschaftlichen Kontext. Er ist im Team von „anders wachsen“, das im September seinen siebten Veranstaltungszyklus startet.