Wir wandern zwischen Zeichen
Věra Koubová rezitiert auf eindrückliche Weise ihr Gedicht „Schwindel“ zur gleichnamigen Fotografie. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Ausstellung in Miesbach
Bevor sich das Kafka-Jahr dem Ende neigt: Ab heute beginnt im Kulturzentrum Waitzinger Keller die Ausstellung „Phantome von Prag – Licht zu Sicht verdichtet“, welche die fotografischen und lyrischen Werke der Prager Fotografin und Kafka-Übersetzerin Věra Koubová zeigt.
Verdichten, dieses Verb hat ja bekanntlich einen doppelten Sinn: Zum einen meint es, etwas Materielles zu komprimieren, wie zum Beispiel die Verdichtung von Asphalt mittels sogenannter Stampfer (das sind diese hämmernd-hüpfenden Baustellengeräte). Und zum anderen kann „verdichten“ auch bedeuten, etwas Immaterielles wie Sprache so gewählt zu verwenden, dass neben dem gewählten Wort kein anderes mehr stehen könnte als ebendas, was bereits dasteht. Wort an Wort, bis die Sprache so dicht wird, dass man sie Dichtung nennt.
Der Fotografin, Übersetzerin – nicht nur von Kafka, auch von Novalis, Nietzsche u.v.m. – und Lyrikerin Věra Koubová (*1953) gelingen beide Arten von Verdichtung: Letztere mit ihren Gedichten, erstere mit ihren Fotografien, auf denen sie die wirkliche Welt, die materielle, unsere immer schon diffuse, neuerdings irgendwie porös gewordene Welt, in eine schwarz-weiß verdichtete Erscheinungswelt von Stadtszenerie und Naturstillleben überführt, in der Schatten und Licht so nahtlos ineinandergreifen, dass man sich unweigerlich fragt, was zuerst da war: der Schatten oder das Licht?
Inspiriert von einer Kafka-Erzählung: „Das Schweigen der Sirene“, Gedicht und Fotografie von Věra Koubová. (Foto: IH)
In der Schwebe
Auch Peter Becher, 1. Vorsitzender des Adalbert Stifter Vereins und ausgewiesener Kenner der tschechischen Literatur, stellte bei seiner Einführung in die Ausstellung eine Überlegung zur Verdichtung an, als er von einer Seherfahrung des „doppelten, ja des mehrfachen Sehens“ sprach, welche die tschechische Fotografin entwickelt habe.
Ein mehrfaches Lesen ist zumindest vonnöten, um Koubovás Gedichten ihren tiefen Sinn abzuringen. Denn ebenso wie ihre Fotografien dienen auch ihre Gedichte nie einer direkten, eindeutigen Mitteilung. Im Gegenteil möchte ihre Kunst die Rezipienten dazu anregen, sich einzulassen auf eine „Welt von Verwunderung und Schwebe, wo sich andere, und doch einleuchtende Sinnformen auftun“, wie es auf der Ausstellungstafel im Waitzinger Keller heißt. Oder wie die Fotografin selbst es auf der Bühne im Festsaal des Kulturzentrums formuliert: „Man kann auf dem Unverständnis schweben!“
Gut gelaunt nach einer gelungenen Vernissage (v.l.): Peter Becher, 1. Bürgermeister Dr. Gerhard Braunmiller, Věra Koubová, die Akkordeonistin Jana Bezpalcová und Isabella Krobisch (Waitzinger Keller). (Foto: Petra Kurbjuhn)
Bei Koubovás Werk, dem fotografischen wie dem lyrischen, scheint es also weniger darum zu gehen, etwas verstehen zu müssen, und vielmehr darum, etwas sehen zu dürfen. Einen neuen Blick für diese Welt zu kriegen. „Wahrnehmungsverfeinerung“, nennt Peter Becher diesen Effekt, der einsetzt, sobald man sich mit dem Werk dieser außergewöhnlichen Künstlerin auseinandersetzt.
Auf verwachsenem Pfade
Selten ist wohl eine Vernissage so rundum gelungen. Und das war nicht allein der Ausstellung zu verdanken, die im Grunde eine Werkschau ist, da sie Fotografien von über drei Jahrzehnten versammelt (welche mit der Unterstützung von Florian Gasteiger sehr konsistent im Raum aufgehängt wurden). Und nicht allein den grandiosen Rezitationen von Věra Koubová, die das Publikum mit jedem Wort in Bann hielt.
Sondern auch zu einem großen Teil dem virtuosen Akkordeonspiel der Tschechin Jana Bezpalcová, die diesem äußerlich ja eher klobigen Instrument so feine Töne ablockt, wie man es wirklich nicht oft zu hören bekommt. Auf der Festsaalbühne trat sodann das gesprochene Wort mit der Musik von Leoš Janáček („Auf verwachsenem Pfade“) in einen vielstimmigen Dialog, der in gewissem Sinne den stummen Dialog vorwegnahm, der später im Ausstellungsraum zwischen den Worten und Bildern Koubovás in Gang gesetzt wurde.
Jana Bezpalcová spielt zu Beginn des Abends das herzerwärmende Stück „Milosrdný“ der tschechischen Akkordeonistin und Komponistin Jana Šulistová. (Foto: Petra Kurbjuhn)
Die weltweit gefragte Akkordeonistin hatte tatsächlich schon einmal, vor 20 Jahren in Weimar, eine Vernissage von Věra Koubová musikalisch begleitet, und so war es ein unverhofftes Wiedersehen, als die beiden sich im Sommer 2023 wiederbegegneten: Im Rahmen des „Literaturcafé Melange“, das an dem von Monika Ziegler und Peter Becher von KulturVision e.V. initiierten und moderierten Thementag der Kulturbrücke Fratres stattfand.
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In Fratres wurde denn auch die Idee zu dieser Ausstellung geboren: Dort konnte Kulturamtsleiterin Isabella Krobisch vom Waitzinger Keller die beiden Tschechinnen für die Ausstellung in Miesbach gewinnen, für das „Abenteuer Oberbayern“, wie es der 1. Bürgermeister der Stadt Miesbach Dr. Gerhard Braunmiller bei seiner Begrüßung in aller Gastfreundschaft bezeichnete. Und was ist ein Abenteuer schließlich anderes als „aus dem Alltäglichen etwas Nicht-Alltägliches herauszuholen“, wie es der Wunsch von Věra Koubová ist, der hinter ihrem Schaffen steht und Wunder tut.
„Wir wandern zwischen Zeichen“, heißt es in einem der Gedichte von Věra Koubová… (Foto: IH)