Von Abhängigkeit bis Zugrundegehen
Roland Barthes. Foto: Ferdinando Scianna
Neu auf dem Buchmarkt
In der Literatur gibt es einige wenige wunderbare Beispiele, in denen Autoren die jeweils passenden Worte für die Liebe fanden. Oft aber sind diese Worte abgeschmackt, banal oder sogar schlüpfrig und gleiten ins Pornografische ab. Jeder Autor, der sich darin versucht, das Mysterium der Liebe schriftlich darzustellen, steht vor diesem Problem.
Der französische Philosoph, Schriftsteller und Literaturkritiker Roland Barthes (1915 – 1980) wählte eine besondere Art, die Liebe sprachlich zu gestalten. Er wählte die Form. Anhand des Alphabets strukturierte er „Fragmente einer Sprache der Liebe“. Das Buch erschien 1977 in Paris auf Französisch und wurde sofort ein Bestseller. Auf Deutsch kam es 1984 heraus.
Zum 100. Geburtstag
Jetzt aber brachte der Suhrkamp-Verlag anlässlich des 100. Geburtstages von Roland Barthes eine erweiterte Ausgabe heraus, in die neben der ursprünglichen Fassung auch die sogenannten „Unveröffentlichten Figuren“ aufgenommen wurden. Diese weiteren Fragmente wurden nach dem Tod des Autors 1980 gefunden und bilden eine wertvolle Ergänzung. Das Buch ist weder ein Roman noch ein thematisch aufeinander aufbauendes Sachbuch im eigentlichen Sinne. Es hat kein Thema, außer das Thema Liebe.
Und dieses Thema Liebe strukturierte der Autor von A bis Z. Da kann man also von „Abhängigkeit“ bis „Zugrundegehen“ nachverfolgen, was einen Liebenden bewegt. Die neu dazu gekommenen „Figuren“ beginnen mit „Alter“ und enden mit „Vertrauter“.
Fundgrube für Autoren
Das Buch ist für jeden Autor, der sich dem Thema Liebe nähern möchte, eine Fundgrube. Denn Barthes untersucht, wie sich Liebende beschreiben. Was alles gibt es im Zwischenmenschlichen zu diesem Thema? Da gibt es Abwesenheit, Angst, Berührungen, Eifersucht, Erwartung, Habenwollen, Hingerissenheit, Mitleid und so vieles andere.
Bei seiner Spurensuche hat Roland Barthes die Literatur durchkämmt. Insbesondere tat es ihm Goethes „Werther“ an, aus diesem Frühwerk des Dichters stammen die meisten Zitate, aber auch Hölderlin, Proust, Baudelaire, Gide und andere Schriftsteller kommen zu Wort.
Es ist ein Liebender
Zudem zitiert Barthes Philosophen von Platon und Aristoteles bis Nietzsche, er bemüht sogar den Heiligen Augustinus und Johannes vom Kreuz, sowie den Psychoanalytiker Siegmund Freud. Die Komponisten Franz Schubert und Arnold Schönberg werden ebenfalls zitiert.
Und so eröffnet er den Reigen seiner „Fragmente einer Sprache der Liebe“ mit dem Satz: „Es ist also ein Liebender, der hier spricht und sagt:“
Als Beispiel soll ein Auszug zum Thema „Der Unbegreifliche“ dienen:
Ich sehe mich in den folgenden Widerspruch verstrickt: einerseits glaube ich den anderen besser zu kennen als irgend jemand sonst…. und andererseits wird mir häufig handgreiflich klar: der Andere ist undurchdringlich, unauffindbar, unheilbar, ich kann ihn mir nicht öffnen, nicht in seinen Ursprung eindringen, das Rätsel nicht lösen.