Mehr als ein p(P)aar Schuhe
Hunderte Paar „Waldviertler“ verteilt Pascal Violo mit seiner Organisation „Karawane der Menschlichkeit“ in Flüchtlingscamps. Foto: Karawane der Menschlichkeit.
Seit Menschengedenken ist der Mensch auf Wanderschaft. Nicht nur der Freude an der Natur wegen – viel häufiger, weil er muss. Für Menschen, die vor Krieg und Terror flüchten, ist gutes Schuhwerk überlebensnotwendig. Drum muss diese Geschichte erzählt werden …
Nur noch fünf Schuhhersteller gibt es in Österreich. Sie fertigen etwa ein Prozent der Schuhe, die dort verkauft werden, 99 Prozent kommen von woanders. Für Heini Staudinger, der 1984 die Waldviertler Schuhwerkstätten übernahm, ist das der Ausdruck einer kranken Gesellschaft. Für ihn steht fest: „Konsumieren ist nicht genug“. Es brauche einen Wandel in der Wirtschaft und in der Gesellschaft. Und dieser Wandel müsse auf vielen Ebenen stattfinden.
Deshalb ist das GEA-Universum gewachsen. Zu den Schuhen, den „Waldviertlern“, sind neben Möbeln, Taschen und Matratzen das Hotel zur Sonne hinzugekommen, das den still gewordenen Ortskern von Schrems wiederbelebt, und die GEA-Akademie mit unterschiedlichsten Seminaren. Den „Brennstoff“ bringt Heini Staudinger ebenfalls heraus. Die Zeitung mit rebellischen und klugen Texten regt zum Nachdenken an und fordert zum Handeln auf. Sie erzählt von unterschiedlichen gelingenden Projekten und mutigen Menschen – beispielsweise von Pascal Violo und von vielen Menschen, die bereitwillig spenden.
„Wir sind eine Menschheitsfamilie“
Mit seinem Team aus etwa 170 Mitarbeitern unterstützt Heini Staudinger zahlreiche soziale Projekte: aktuell in Afrika, in Flüchtlingslagern sowie bei unterschiedlichen Hilfsorganisationen und Tafeln in Österreich. „Wir sind Gast auf Erden“ und „Orientier dich an der Liebe“ sind zwei der zentralen Glaubenssätze, die ihren Ursprung in Schrems haben und um die Welt gehen, um die eine Menschheitsfamilie, der wir alle angehören, zu unterstützen. Und da ist ihnen in den letzten Monaten eine wunderbare Sache widerfahren:
Waldviertler für Flüchtlinge und Bedürftige
„Die Lage ist ernst: Kauft!“ war der Aufruf nach dem Motto: heute Schuhe kaufen und Arbeitsplätze von morgen sichern. Corona-bedingt waren die Mitarbeiter in Kurzarbeit, die Lager voll. Und woanders fehlte es am Nötigsten, vor allen bei den Menschen, die sich normalerweise kein paar Waldviertler leisten konnten: den Armen und den Ärmsten, bei den Flüchtlingen. Ein Vorarlberger brachte die Lawine ins Rollen: Er wollte unterstützen, brauchte aber keine Schuhe und schickte stattdessen eine Schuhspende für Bedürftige. Das machte die Runde und inzwischen sind 215.000 Euro zusammengekommen und rund 3.900 Paar Schuhe konnten verteilt werden.
300 Kinder, die im Krieg ihre Eltern verloren haben, leben in dem Flüchtlingslager, in dem Pascal Violo „Waldviertler“ verteilte. Foto: Karawane der Menschlichkeit.
Gerade erst hat Pascal Violo, der angesichts von Moria die „Karawane der Menschlichkeit“ ins Leben gerufen hat, wieder einen LKW voller Hilfsgüter in ein Flüchtlingslager nahe der syrischen Grenze gebracht, darunter 400 Paar „Waldviertler“. Der Reisefotograf, der vor Corona etwa 200 Vorträge im Jahr hielt, wollte sich nützlich machen in der Krise, in der die Nachrichten um das Virus die prekäre Lage der Flüchtlinge verdrängten. Er organisierte einen LKW und machte sich auf den Weg. Seine Organisation unterstützt unter anderem zwei Waisenhäuser in Syrien und der Türkei, wo Kinder leben, die ihre Eltern im furchtbaren Krieg der letzten Jahre verloren haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die drei Wirkungssäulen: Hilfsgüter, Sachspenden und Lebensfreude. Denn Teil des Teams vor Ort waren auch professionelle Clowns, Akrobaten und Künstler, die die „Karawane der Menschlichkeit“ ehrenamtlich begleiteten. Die Kriegswaisen sind vor allem seelisch schwer verletzt und Lachen wirkt bekanntlich Wunder.
Gutes Schuhwerk statt zerschlissene Flipflops
Renate Gönner, „die gute Seele der GEA Akademie“, ist in Moria gewesen. Die Eindrücke, die sie mit nach Hause gebracht hat, haben sich für immer bei ihr eingebrannt. Wie die nackten Füße der Menschen, die auch bei eisigen Temperaturen, Matsch und Regen in zerschlissenen Flipflops durch die Lager gehen. „Wir sind so glücklich“, sagt sie, „dass unsere Schuhe endlich dort ankommen, wo sie wirklich gebraucht werden: bei Menschen, die sie sich sonst nie leisten könnten, aber auf gutes Schuhwerk angewiesen sind“.
Starkes Team: Renate Gönner und Heini Staudinger in Schrems. Foto: IW
Was macht die „Waldviertler“ aus? Sie sind aus hochwertigem Material zum größten Teil handgefertigt und halten schon mal 30 Jahre, wie beispielsweise die Schuhe von Jorgos, der zwinkernd sagt „so gesehen – recht billig“. Genau richtig also für Menschen, die viel zu Fuß unterwegs sind, nicht nur diejenigen auf der Flucht, aber für diese besonders. „Schuhe sind das Wichtigste, sie sichern das Überleben“, so Diakoniedirektor Michael Chalupka: „Man muss auf der Flucht auf sie aufpassen wie auf seinen Augapfel, am Besten schläft man auf ihnen“.
Waldviertler selbst schustern
Wer sich ein Paar Waldviertler selbst anfertigen möchte, kann in der GEA Akademie einen Kurs besuchen. Toni Schuster (so heißt er wirklich), leitet seit 2003 diese Kurse, 284 sind es schon gewesen. Und immer wieder fahren nach einem arbeitsintensiven Wochenende glückliche Menschen nach Hause, welche die Mühsal der drei arbeitsintensiven Kurstage vergessen – stolz mit ihrem paar selbstgemachter „Waldviertler“ an den Füßen.
Toni Schuster bringt seinen Kursteilnehmenden das Handwerk des Schuhmachens näher. Foto: IW
In einem der etwa 50 GEA Läden in Österreich und Deutschland können Interessenten ihren Lieblingsschuh anprobieren und später in Schrems anfertigen – individuell, von der Lederfarbe bis zu anatomischen Eigenheiten der Füße. Toni Schuster hilft, die Leisten anzupassen und lehrt seinen Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmer alles Wichtige über das Schuhhandwerk. „Beim ‚selber machen‘ lernt man den Wert der Handarbeit erst richtig kennen und schätzen“, sagen diese einstimmig.
Wie aus 300 Euro 100.000 wurden
Und weil der Wirkungsgrad der Philosophie Heini Staudingers weit über Schuhe hinausgeht, muss auch die andere Geschichte noch erzählt werden, die Renate Gönner berichtete: „Die unglaubliche (und doch wahre) wunderbare Geldvermehrung“, die zu einer ähnlichen Lawine wurde wie die Schuhaktion für Bedürftige.
Als im Restaurant des GEA Hotels alle Köche gleichzeitig ausfielen, half der pensionierte Karl hilfsbereit aus und schlug die 500 Euro aus, die Heini Staudinger ihm geben wollte. Er begnügte sich bescheiden mit 200 und schlug ihm vor, die 300 jemanden zu geben, der sie dringender brauchte. Tags drauf gab dieser die 300 Euro weiter an die Organisatoren des Mahatma Gandhi Symposiums, denen noch Gelder fehlten. Kaum einen Tag später kamen wieder 300 Euro, die schließlich in einem Flüchtlingslager in Süditalien landeten. Und so weiter. Aber weil diese Geschichte eine neue Geschichte ist, erzählen wir sie bei Gelegenheit weiter.
Lesetipp: Ukulele lernen an der GEA Akademie