Wirtshausgschichten

Sagenhafte Wirtshausgschicht, nahezu wahr!

Warum ein Bild des Waldes zu einer Wirtshausgschichte gestellt wird, erfahren Sie ganz am Ende der Geschichte. Foto: MZ

Kolumne zum Donnerstag

Am heutigen Donnerstag bringt unser Autor Karl-Heinz Hummel beim Mundart Poetry Slam in Grafing diesen Text zum Thema „Wirtshäuser mögen sterben, Wirtshausgschichten dagegen überleben!“ zu Gehör. Wir dürfen seine humorige Wirtshausgschichte schon jetzt veröffentlichen.

In der Wirtschaft zur Schwalbe in der Schwanthalerhöh stand in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts der Sepp Komaz hinter dem Schanktisch, schenkte Augustinerbier aus und grantelte mit Gemütsruhe tagaus tagein gegen uns langhaarige Linke und TSV 1860 verdächtige Looser. Der Sepp war politisch ein Schwarzer und fussballerisch ein Roter, wir waren politisch rot und fussballerisch blau.

So saßen wir stets am runden Tisch in der Fluchtlinie zu den Toiletten. Weil aber der Sepp den Grundsatz hatte, seine Feinde darf man nicht verkommen lassen, waren die Essensportionen für uns eher noch größer als sie eh schon waren. In der Küche stand die Frau vom Sepp, ihr Kopf tauchte in gleichmäßigen Rhythmen aus dem Schiebefenster der Küchentüre auf. Sie stellte dann die fertigen Teller auf die Durchreiche, nahm den roten Essensbon aus der Soss und spießte ihn auf den Nagel vom Bonhalter. Dann schlug sie dezent mit einem Kochlöffel auf einen Topfdeckel, klangschalenmässig meditativ.

Diese Schwingung war der Impuls für den Sepp, er drehte sich um, nahm den oder die Teller und servierte das Essen an den Tischen. Diese Bewegungsabläufe vollzogen sich in vollendeter Präzision und Harmonie, jahrzehntelang haben die Frau Komaz und der Sepp nicht auch nur ein Wort dabei wechseln müssen, alles komplett nonverbal. Bekannt?

Speisekartenhit war das mit Semmelknödelteig gefüllte halbe Bauernhendl mit Semmelknödl als Beilage und Salat, zirka 1000 Gramm die Hälfte. Das Gericht gab es nur am Mittwoch. An die Portion haben dann die Rentner vom Rentnertisch bis zum Freitag hingegessen.

Pünktlich um acht Uhr Abend war die warme Küche aus. Frau Komaz richtete noch sicherheitshalber vier Schweizer Wurstsalat für die kommunistischen Drucker her, weil die am Mittwoch erst nach der Kapitalschulung zum Essen einliefen. Daraufhin hängte die sie ihr soßenbraun furniertes Küchengwand an den Nagel und ging hinauf in die Wirtewohnung im ersten Stock, um dort zur Reinigung und Entspannung ein Bad zu nehmen.

Wohnungsbau Schwanthalerhöh‘

Exkurs: Die Wohnungen in der Schwanthaler Höh besaßen ursprünglich baulicherseits keine Badewannen. Wasser und Toiletten befanden sich eine halbe Treppe tiefer und wurden von vier Parteien genutzt. Der Kloschlüssel hing an einem Haken außen. Der Wohnungsbau um 1900 diente ausschließlich zur Ernährung und als Schlafplatz für Industriearbeiterinnen und -arbeiter. Zur Reinigung des proletarischen Körpers gab es in der Westendstrasse 70 das kommunale Tröpferlbad, Arbeiterstrandbad genannt: Duschen, Wannen, Heißwasser, ois! Getrennte Eingänge für Frauen und Männer, stärkster Andrang Samstag Nachmittag.

Die Frau Komaz hatte es irgendwie durchgesetzt, dass die Brauerei in der Wirtswohnung oben eine Badewanne installierte. Vollkommen vertretbar, schließlich stand sie den ganzen Tag im Fettdunst, damals noch ohne jeden Abzug, und schließlich hatte auch sie Anspruch auf ein gepflegtes Äußeres, wenigstens auf d’Nacht, oder? Exkurs Ende!

Klohäuslspezifisches

Die Badewanne der Wirtswohnung stand genau über dem Abort für die Mannaleit. Der Abfluss dieser Wanne wurde als Fallrohr pragmatisch verlegt: Es mündete auf Fusshöhe in die weißgekachelte Bieslwand unten an der mit vier Prozent Gefälle der Kanalisation zustrebenden „Soachrinna.“

Wirtshausgschichte
Kachelwand im Herzen barfuß. Foto: Volker Derlath

Zweiter Exkurs: Die größte Attraktion dieses Herrenklos bestand darin, dass irgendjemand eine Klopapierrolle, die einen Wasserschaden erlitten hatte, auf die Trennwand zwischen den Sitzklos gestellt hatte, um sie dort zu trocknen. Jahrelang trocknete diese Klopapierrolle so vor sich hin, transzendierte zu einer sozialen Skulptur, mumifizierte, ging ins Staubförmige, Endgültige über. Wir diskutierten jahrelang, ob es sich bei der Klopapierrolle um eine Skulptur von Joseph Beuys oder eine von Christo dort vergessene Verpackung handelte. Dieser Kunststreit ist bis heute nicht entschieden. Exkurs Ende!

Aromenvielfalt

Gegen dreiviertel neun nahm die Köchin oben den Stopsel aus der Badewanne, um das Wasser abzulassen. Wie ein Bergbach stürzte das Brauchwasser schäumend und gurgelnd in die Tiefe und plätscherte durch die Rinne an den Füßen vorbei Richtung Schwarzes Meer. Durch diesen Wassersturz verwandelte sich die von Ammoniakaromen dominierte Duftlandschaft des Herrenklos in eine Ozon und Fichtennadeln verströmende, lärchenbewachsene Berglichtung mit einem Hauch von Röstaromen eines Bauernhendls. Das Geruchszentrum im Gehirn des Bieselnden schaltete sofort auf Wellness um und der Körper transzendierte in einen Zustand der inneren Harmonie: Zwei Minuten Zen, Chakra warm, alles loslassen! Panta rhei – alles fließt!

Wirtshausgschichte
Fallrohr. Foto: Volker Derlath

Warum erzähl ich das: Weil das Wirtshaus allgemein und der Schwalbensepp im Besonderen den Think Tank der menschlichen Kultur darstellen!

An der Kachelwand der Schwalbe befand sich der Start-Up für das, was heute Führungskräftecoaches, Teamentwickler, Schamanen oder findige Regionalvermarkter der entfremdeten Menschheit als Waldbaden verkaufen, an der Kachelwand beim Schwalbensepp ist genau dieses Waldbaden erfunden worden.

Unser Autor hat mehrere Bücher im Allitera Verlag, München herausgegeben, zuletzt die Berggeistersagen und Karl Heinz Hummel: „Wirtshaussagen“ Allitera Verlag. Arbeiten von Fotograf Volker Derlath: „Frisch gestrichen“, ein immerwährender Jahreskalender mit Fotos von Volker Derlath, Huraxdax Verlag. Derlath (Hrsg) „Sei mit gegrüßt, du Held im Schaumgelock“, Bier, Lyrik, Fotografie. Volk Verlag.

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