Immer ein Buch im Busen
Ein Buch wie ein Museum. Foto: Hannah Miska.
Neuerscheinung auf dem Buchmarkt
Mit der „Wunderkammer des Lesens“ hat der Verlag Das Kulturelle Gedächtnis ein Buch herausgebracht, das den Leser auf einen üppigen und farbenreichen Spaziergang mitnimmt durch die faszinierende Welt des Lesens.
Eigentlich, so behauptet der Herausgeber, sei dieses Buch ja gar kein Buch, sondern – ein Museum. Und um es gleich vorwegzunehmen: Thomas Böhm hat recht. Die Wunderkammer des Lesens ist ein Buch, in dem man ganz wie in einem Museum herumspazieren kann, dabei kleine Kostbarkeiten aufliest sowie phantastische Entdeckungen macht. Die Fundstücke sind ebenso kurzweilig wie poetisch und staunenswert und man findet Dinge, von denen man mitunter nicht die leiseste Ahnung hatte. Oder hätten Sie gewusst, dass es auf der internationalen Raumstation ISS, die in etwa 400 Kilometer Höhe unseren Planeten umkreist und seit 2002 dauerhaft bemannt ist, eine Bibliothek gibt? Und dass die ISS mit Story Time from Space sogar eine eigene Lesereihe für Kinder veranstaltet?
Vom munteren Geist am Morgen
Thomas Böhm hat mit seinem im April erschienenen Buch ein wahres Juwel geschaffen, eine Wunderkammer eben, die uns mit Anekdoten, Episoden, Zitaten, Gedanken sowie ganz neuen Ideen rund um das Lesen den Blick auf das Vergnüglichste weitet. Da gibt es zum Beispiel eine Leseanleitung des Jesuiten Francesco Sacchini aus dem Jahre 1614. Der empfiehlt, „immer ein Buch im Busen oder in der Tasche“ zu haben, rät aber für schwierigere Lektüre wie den Cicero eher die „Morgen- oder andere schickliche Stunden…, denn zu dieser Zeit ist der Geist noch munter, kraftvoll, und das Gemüth frei von allen widrigen Eindrücken, so daß man Mark und Saft recht eigentlich aus dem Schriftsteller zieht.“ Ein durchaus brauchbarer Hinweis.
Laut lesen oder still, allein oder mit anderen?
Auch die von Sacchini diskutierte Frage, ob man eher laut oder still lesen soll, ist noch heute aktuell. So gibt es seit 2012 einen Silent Book Club (SBC) mit weltweit 300 Ablegern, der völlig anders funktioniert als die traditionellen Literaturkreise: Man trifft sich, liest eine Stunde lang, ganz für sich, die eigene mitgebrachte Lektüre und wenn man Lust hat, kann man nach der Lektüre miteinander plaudern. Der Druck, etwas Kluges über ein vorher ausgewähltes Buch zu sagen, entfällt, wichtig allein sind das soziale Miteinander und die gemeinsame Leidenschaft fürs Lesen. Die beiden Frauen, die den Club in San Francisco gründeten und ihn ironisch einen „Lesezirkel für Introvertierte“ nennen, ermuntern jede und jeden, neue SBCs zu bilden.
Natürlich kann man auch einen traditionellen Lesezirkel auf die Beine stellen, und auch dafür gibt es Anregungen im Buch-Museum. Wie findet man Mitleser? Wie einen passenden Raum? Wer hat die Gesprächsführung und wie geht man mit Vielrednern, Schweigsamen oder Witzbolden um?
Humor und Heilung
A propos Witzbolde: Der amerikanische Komiker Scott Rogowsky, so erfahren wir in der Wunderkammer, inszenierte einen Gag in der U-Bahn. Er las Bücher mit absurden, erfundenen Titeln (Etwa „Menschen ausstopfen. Anleitung für Anfänger“ oder „Wie man eine Frau in der U-Bahn anmacht“) und ließ die Reaktionen der Mitfahrenden von seinem Team filmen. Etliche verdutzte Fahrgäste versuchten, unauffällig ein Foto zu machen, andere waren sichtlich irritiert und wiederum andere brachen in schallendes Gelächter aus.
Gemeinsames Lesen, so lernen wir bei unserem Museumsrundgang, dient übrigens nicht nur dem Vergnügen, sondern kann durchaus auch eine heilende Wirkung haben. So wird das sogenannte „shared reading“ seit einiger Zeit erfolgreich in der Demenz- und Schmerztherapie, in der Psychiatrie und bei der Resozialisierung von Straftätern angewandt.
Herausforderungen für Fortgeschrittene
Wer nach Ideen sucht, um den eigenen Lektüre-Horizont zu erweitern, wird, so erzählt Thomas Böhm, im Internet fündig. Dort gibt es sogenannte „Lese-Challenges“ – Herausforderungen mit dem Ziel, eingefahrene Lesegewohnheiten zu sprengen. So lautet die Aufgabe der „Read Around the World Challenge“ beispielsweise, ein Buch aus jedem Land der Erde zu lesen. Andere Aufgaben wie „ein Buch über Wirtschaft und Finanzen lesen“ oder „eine Biografie über einen Menschen lesen, den Sie nicht leiden können“ sind vermutlich in kürzerer Zeit zu bewältigen, aber gegebenenfalls dennoch eine Ansage.
Was aber sind nun die 100 besten Werke der Literaturgeschichte? Das wollten der norwegische Buchclub gemeinsam mit dem Nobelinstitut im Jahr 2002 herausfinden. Zu diesem Zweck befragten sie 100 Autoren aus 54 Ländern. Das mit Abstand am häufigsten genannte Buch war Don Quijote von Miguel Cervantes – mehr wird hier nicht verraten.
Wunderschön illustriert von Andrew und Jeff Goldstein. Foto: Hannah Miska mit Genehmigung des Verlags.
Von der Poesie des Umblätterns
Wenn Sie jetzt aber doch noch etwas über die Poesie des Umblätterns oder über den Umgang mit schlechten Buchgeschenken erfahren möchten; wenn Sie wissen wollen, wie man über Bücher spricht, die man nie gelesen hat oder wenn Sie das richtige Leselicht suchen (in niedrigen Räumen bitte Kronleuchter vermeiden); wenn Sie die zehn Rechte des Lesers kennenlernen möchten (das erste lautet: Das Recht, nicht zu lesen) oder auf den neuesten Stand der Bücherwelt kommen möchten (Booktube, Buddy-Read, Buch-Hangover), dann sollten Sie sich unbedingt und sofort die „Wunderkammer des Lesens“ kaufen. Und wenn Sie das Buch dann – wahlweise in der Badewanne, in der U-Bahn, am Stehpult oder im gemütlichen Ohrensessel – lesen, dann überfällt Sie hoffentlich sogleich die Vesana ad scenas romanenses propensio: die 1796 von Friedrich Benjamin Osiander, Professor für Medizin und Entbindungskunst in Göttingen, diagnostizierte Lesesucht.
Dass Thomas Böhm diese Lesesucht füttert, ist gewiss. Die an Farben und Formen reiche, wunderschöne Illustration der Grafiker Andrew und Jeff Goldstein trägt darüber hinaus zum Vergnügen des Lesers bei und verdient eigenständiges Lob.
Zum Weiterlesen: Schicksale im Böhmerwald