5 Millisekunden
Zeitmessung beim 100-Meter-Läufer. Foto: pixabay
Sonntagskolumne
In unserer Sonntagskolumne schreibt unser Gastautor Jonas Geißler über das Spektakel der Zeitmessung und was es mit unserem Zeiterleben zu tun hat (inklusive ein paar Anregungen für die Sommerzeit).
Wir können zurzeit wieder Zeugen werden, wie ein milliardenschweres Spektakel gegen die Zeit inszeniert wird. Was bei den alten Griechen noch der Wettkampf „Mann gegen Mann“ war, wurde vorletztes Jahrhundert von den Engländern zu einem „Match against time“ umgewandelt. Nicht länger war es das Ziel, die mitstartenden Konkurrenten zu schlagen, sondern die Zeit, genauer die Uhrzeit.
Dieses Spiel haben wir in einer Weise optimiert, dass vor wenigen Tagen im olympischen 100-Meter-Lauf Noah Lyles mit einem Vorsprung von fünf Tausendstelsekunden vor dem zweitschnellsten Sprinter Kishane Thompson über die Ziellinie hechtete. Fünf Tausendstelsekunden! Das sind fünf Millisekunden. Ein Lidschlag dauert etwa 300 Millisekunden – also etwa 60 Mal so lang.
Sport ist eine Tätigkeit, die nur wir Menschen ausführen. Und abgesehen vom Reitsport sind wir dabei die einzigen Beteiligten. Was sagt es nun über uns aus, wenn wir den direkten Wettstreit von Menschen durch Technik auf einer Ebene entscheiden lassen, die selbst den schnellsten Vorgang menschlicher Sensorik noch um den Faktor 60 unterbietet? Werden es demnächst Mikrosekunden oder sogar Nanosekunden sein, die über Gold, Silber und Bronze entscheiden? Das wären dann Zeiten, in denen Elektronen die Atomkerne umkreisen. Was für ein Verhältnis haben wir zur Zeit? Olympiaden als Festivals der Zeitverdichtung? Was will uns diese Tatsache über unseren Umgang mit Zeit sagen?
Jonas Geißler. Foto: Nils Schwarz
Hier ein paar Angebote:
1. Messfetisch
Nun, wir haben anscheinend eine Meisterschaft im Messen entwickelt. Die Zeit als DAS Messobjekt, die Uhr als DAS Messgerät. Nur sollten wir die Tatsache nicht vergessen, dass das gelingende Leben, das zufriedene, zeitsatte Sein oft jenseits der Uhr zu finden ist. Es ist rhythmisch organisiert, entsteht in Resonanz mit anderen und schöpft sein Wesen aus jenen Zeitqualitäten, die sich nicht messen, sondern nur empfinden lassen. Da geht es um Freundschaft, Vertrauen, Liebe, Mitgefühl und Verbundenheit. Alles Qualitäten, die für ein gutes Leben nicht unwesentlich sind und deren Bemessung mit einer Stoppuhr ein ziemlich vermessenes und absurdes Vorhaben wäre. Kurz: Auch wenn wir Meister des Messens geworden sind, diejenigen Zeiten, die im Leben zählen, sind jene, die wir nicht zählen. Bei allem Messfetisch sollten wir sie nicht vergessen!
Gelingendes Leben lässt sich nicht mit der Stoppuhr messen. Foto: pixabay
2. Unschärfe
Je genauer wir hinschauen, desto unschärfer wird es. Man kann sich die Tragweite der vor gut einer Dekade gemachten Entdeckungen der Quantenphysik nicht häufig genug ins Gedächtnis rufen. Wenn wir sehr stark „heranzoomen“, in den subatomaren Bereich, wird es wieder unschärfer! Auf einmal können wir nicht mehr genau feststellen, welches Teilchen sich zu welcher Zeit an welchem Ort befindet. Diese Erkenntnis lässt sich natürlich nicht auf unseren 100-Meter-Sprinter übertragen, auch wenn es ein lustiges Gedankenexperiment wäre. Der Kommentar bei den Olympischen Spielen könnte sich in etwa so anhören: „Lyles ist zwar in 9,79 Sekunden über die Ziellinie gelaufen, wir können aber nicht genau sagen, wo selbige ist.“
Glück ist unverfügbar. Foto: pixabay
Für unser eigenes Leben können wir festhalten, dass ein wenig Unschärfe manchmal ganz hilfreich ist. Die genaueste Vermessung, z.B. der eigenen Körperfunktionen, kann ja im Krankheitsfall hilfreich und notwendig sein, für den Normalbetrieb sollte sie zumindest kritisch hinterfragt werden. Durch das ausgiebige Messen machen wir die Dinge erkennbar, beherrschbar und verfügbar. Das ist zwar in der ökonomischen Logik sinnvoll, wir nehmen uns damit aber den Erfahrungsraum der Unschärfe, dem, was dazwischen stattfindet, was entsteht, emergiert, was sich ungefragt in Form von Überraschungen zu uns gesellt. Auch dies sind keine unwesentlichen Dinge des Lebens: die Muße, der Einfall, die Erkenntnis, das Glück, die Idee, u.a.m. Sie alle sind unverfügbar und werden durch allzu genaues Messen und Beherrschungsabsichten unwahrscheinlicher. Demnach ist es etwas vermessen, vom Messen besessen zu sein. Laden wir doch bei Zeiten lieber das Lassen in seinen mannigfaltigen Formen ein: das sich Einlassen, das Gelassen-Sein, das Loslassen und warten wir, welche Qualitäten sich in diesem Raum der Unschärfe zu uns gesellen. Die Urlaubszeit ist sicherlich nicht die schlechteste Gelegenheit dazu.
3. Gelebte Zeitvielfalt – geliebte Zeit
Es braucht auch Pausen. Foto: MZ
Klar, bei den Olympischen Spielen geht es im Moment des Wettkampfes um Schnelligkeit. Die Voraussetzung dafür, dass Herr Lyles und seine Kollegen derart schnell sein können, liegt aber daran, dass sie zu anderen Zeiten ganz langsam sind. Gute Sportler*innen wissen das: Für ihren eigenen Erfolg müssen sie viele Zeitformen leben – schnelle und langsame und viele dazwischen. Es braucht Pausen, um sich zu regenerieren. Es braucht Wartezeiten, z.B. um sich nach Verletzungen zu erholen oder um die optimalen Trainingszeitpunkte abzuwarten. Es braucht Anfänge, Abschlüsse, Übergänge, um sich aufzuwärmen, vorzubereiten und auch um mental die notwendige Stärke aufzubauen. Dann braucht es sicherlich das richtige Timing, denn Timing schlägt Geschwindigkeit. Und dann braucht es Zeiten der Besinnung, der Reflexion und des Lernens. Wenn all diese Qualitäten in einer Symphonie der Zeiten zusammen dirigiert werden, dann, und nur dann, ist am Ende Zeit für den Triumph.